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Wenn Eltern Hilfe brauchen

Der Dokumentarfilm „Elternschule“ zeigt wie Kinder und Eltern in der psychosomatischen Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen behandelt werden. Dies sorgt für einen Aufschrei unter Eltern, sowie Fachleuten.

Namhafte Verbände und Experten kritisieren die Arbeit der Klinik massiv und sehen das Wohl der Kinder dort als gefährdet an. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft in diesem Fall. Wir haben mit der Pädagogin und systemischen Beraterin Dr. Eliane Retz darüber gesprochen, warum Eltern überhaupt an ihre Grenzen stoßen können und welche anderen Ansätze es für hilfesuchende Familien gibt.

Was genau ist in den letzten Wochen mit Start des Films „Elternschule” passiert?

Die Dokumentation zeigt die Vorgehensweise der psychosomatischen Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen. Dass der Film physische und psychische Gewalt gegenüber den dort anvertrauten Kindern und Jugendlichen darstellt, wurde von namhaften Expertinnen und Experten so benannt.

In den letzten Tagen erschienen in den sozialen Medien zahlreiche Stellungnahmen, in denen man sich entsetzt über die Vorgehensweise der Klinik äußerte. Der Deutsche Kinderschutzbund rät Eltern explizit von einem Besuch des Films ab. Bekannte Experten, allen voran Prof. Karl Heinz Brisch (Bindungsforscher) sowie Dr. Herbert Renz-Polster (Kinderarzt und Autor) argumentieren sehr klar und deutlich, welche Folgen diese Gewalt für die kindliche Entwicklung hat.

Es ist sehr überraschend, dass Journalisten dagegen diesen Film als gelungen, sehenswert einschätzen: Die Zuschauer können hier sehen, wie gute Erziehung funktioniert.

Der Film ist nun da und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wir sind jetzt in eine öffentliche Debatte geraten, welche Grenzen im Rahmen von Therapie gewahrt werden müssen, wie es Kindern und Eltern, in dieser Klinik ergeht und inwieweit hier das Wohl der Kinder gefährdet ist, anstatt dieses sicherzustellen, wobei doch gerade diese Kinder besonders schutzbedürftig sind. Ich finde diesen Diskurs sehr wichtig.

Über all das müssen wir dringend reden. Das ist genau so fällig wie #MeToo.

Aus meiner Arbeit mit Eltern weiß ich, dass das „kontrollierte Schreienlassen“ nach wie vor sehr häufig empfohlen wird, damit das Kind lernt alleine im eigenen Bett ein- und durchzuschlafen. Es gibt klare Befunde der Bindungs- und
Hirnforschung, die belegen, dass das Regulations-System von Kindern nicht ausgereift ist.

Babys und Kleinkinder brauchen Unterstützung in ihrer Regulation durch zugewandte liebevolle und verfügbare Bindungspersonen. Ja, die Kinder schlafen nach dem Schlaftraining, aufgrund einer starken physischen und psychischen Erschöpfung und inneren Resignation.

Das Schlimme ist außerdem, dass diese frühkindliche Erfahrung später nicht erinnerbar ist, da wir uns in der Regel erst an Kindheitserlebnisse ab dem Alter von ca. drei Jahren erinnern können. Was das Kind aber erlebt hat, hinterlässt Spuren in der Gehirnentwicklung sowie Bindungsfähigkeit.

Diese Befunde scheinen also trotz ihrer Aktualität, noch nicht überall angekommen zu sein, oder?

Ja, dieser Eindruck entsteht. Was für ein Bild von Säuglingen und Kleinkindern hat ein Teil unserer Gesellschaft, die nach wie vor einen solchen Umgang mit Kindern beführtwortet? Und zurück zum Film „Elternschule“: Im Mittelpunkt des Film steht die Behandlung von Kindern und deren Eltern mit schwerwiegenden Problemen: Die Kinder schreien, sind sehr aggressiv, sind völlig erschöpft, da sie sehr schlecht essen, trinken und schlafen. Es geht hier um frühkindliche Bindung und deren Störungen, um Bereiche der frühen Regulation – das hat doch erstmal gar nichts mit Erziehung zu tun.

In einer Beschreibung des Film steht unter anderem, dass diese „Kinder, ihren Eltern den letzten Nerv rauben“. Bereits diese Aussage ist so unglaublich abwertend, und wird dem Leid der Familien in keinster Weise gerecht. Eine andere wichtige Fragestellung aber lautet auch: Wurden die gefilmten Kinder denn gefragt, ob sie in diesen Szenen, in dieser Verfassung gefilmt werden möchten? Ich gehe nicht davon aus, es reichte wahrscheinlich die Einwilligung der Eltern.

Stellen wir uns das selbst einmal vor: Wie würden wir uns fühlen, wenn wir als Kinder ein Schlaf-, Ess- und Trennungstraining absolvieren müssen und dabei gefilmt werden? Bereits das stellt einen tiefen Eingriff in die Rechte der Kinder dar. Wie wird es den Kindern später gehen, wenn sie von dem Film erfahren und sich darin selbst erkennen, öffentlich zur Schau gestellt?

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Warum kommen Eltern überhaupt so an ihre Grenzen mit ihren Kindern?

Gerade der Beginn der Elternschaft ist oftmals eine sehr verletztliche Phase im Leben von Müttern und Vätern. Oft lesen wir ja, dass Eltern heute verlernt hätten auf ihr Bauchgefühl zu hören und so orientierungslos wären. Das stimmt so überhaupt nicht – auch Eltern der früheren Generation waren oft zutiefst verunsichert, was denn die „richtige“ Erziehung sei.

Der Umgang mit den Kindern war sehr autoritär, auch gewaltvoll und aus der Forschung wissen wir, dass sich das überhaupt nicht positiv auf den Selbstwert der Kinder sowie deren gesamte Entwicklung auswirkte. Die heutige Elterngeneration sucht also neue Wege. Eine große Rolle spielt die eigene Bindungsgeschichte: Wenn diese positiv ist, dann fällt es uns in der Regel auch leichter, die Bedürfnisse des Kindes richtig wahrzunehmen.

Kommen Kinder mit einem „schwierigen“ Temperament zu solchen Eltern, also Babys, die viel weinen, die viel Unterstützung beim Ein- und Durchschlafen brauchen, dann können die Eltern das sehr wahrscheinlich besser regulieren als Eltern, die durch ihre eigenen frühen Bindungserfahrungen belastet sind.

Eine ganz große Rolle spielt sicherlich auch, dass heute viel mehr und vor allem länger gestillt wird, dass Co-Sleeping praktiziert wird, also das Baby/Kleindkind schläft bei den Eltern sowie, dass Kinder heute viel getragen werden. Dieser bedürfnisorientierter Umgang ist als Attachment Parenting bekannt.

Das ist im Übrigen nichts Neues. In traditionellen Kulturen ist das ein völliger üblicher Umgang mit Kinder und wir wissen auch aus Studien, dass sich das sehr positiv auf die Eltern-Kind-Bindung auswirken kann und somit sehr zu empfehlen ist. Wenn Eltern also mit ihren Kinder einen solchen Weg einschlagen, irritiert das oftmal die Großelterngeneration. Es kann Kritik geben, dass die Kinder zu sehr verwöhnt werden. Es fehlt aber auch dann ganz klar an Vorbildern und Unterstützung.

Der Film „Elternschule“ zeigt verhaltenstherapeutische Maßnahmen, um die Kinder wieder auf die „richtige“ Bahn zu bringen. Welche anderen Ansätze gibt es für hilfesuchende Eltern?

Ich arbeite nach dem familiensystemischen Konzept, was bedeutet, dass ich den Eltern keine vorgefertigten Lösungen präsentiere, sondern diese gemeinsam mit ihnen entwickele. Es gibt immer auch einen sogenannten edukativen Teil, in dem ich die Eltern darüber informiere, was die Wissenschaft zu einem Thema sagt.

Nehmen wir das Beispiel „Baby-Kleinkinder-Schlaf“ – es ist sehr wichtig für Eltern zu hören, dass in der Nacht das kindliche Bindungssystem besonders aktiviert wird, warum es unterschiedliche und „störanfällige“ Schlafphasen gibt und was wir von einem Baby/Kleinkind überhaupt erwarten können.

Auf dieser Basis können dann Lösungen entwickelt werden. Ich bin Pädagogin – ich biete keine Therapie an. Wenn mein Eindruck ist, dass beispielsweise eine tiefenpsychologische Beratung gut wäre, melde ich das den Eltern zurück und vermittele diese dann auch weiter.

Meiner Erfahrung nach kommt oft viel Entspannung in das familiäre System rein, wenn die Eltern sich „trauen“ Beratung für sich in Anspruch zu nehmen und darüber Informationen zur kindlichen Entwicklung erhalten. Besonders wichtig ist dabei, dass beide Elternteile dann dabei sind und bereit sind, sich gegenseitig zu unterstützen.

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Ihr wollt mehr über Eliane und ihr Projekt „Geborgenheit fürs Kind“ erfahren? Dann lest unsere 7 Fragen an Sie.

7 Fragen an … Eliane Retz

Dr. Eliane Retz ist Pädagogin, systemische Beraterin und Mutter von zwei Töchtern.

Pädagogin Und Systematische Beraterin Eliane Retz, Geborgenheit Fürs Baby // Himbeer
© Eliane Retz

Studiert und promoviert hat sie an der LMU in München. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit hat sie immer interessiert, wie uns frühe Bindungserfahrungen prägen und was Eltern unterstützt, ihren Weg als Familie zu finden. Warum Kinder so sind, wie sie sind, steht im Mittelpunkt Ihrer Eltern-Beratung bei Geborgenheit fürs Kind. Dabei bezieht sie sich auf aktuelle Erkentnisse der Bindungs- und Entwicklungsforschung. Die Suche nach Antworten und Lösungen erfolgt gemeinsam mit den Eltern.