Das Wunder des Augenblicks

STADTGESTALTEN BERLIN: Das GRIPS Theater dürfte deutschlandweit eines der bekanntesten Kindertheater sein. Bislang standen Stücke für Kinder ab 5 Jahre auf dem Programm. Unter dem neuen Künstlerischen Leiter Stefan Fischer-Fels entdeckt das GRIPS nun die Zweijährigen und ihre Eltern. Anja Kraus war anfangs skeptisch, ob Theater für die Allerkleinsten wirklich sinnvoll ist und hätte nicht damit gerechnet, dass sie Theater für Kinder noch mal in einer ganz anderen Facette erleben und so begeistert sein würde.

„Genau das ist auch unsere Geschichte, vorgestern wollte meine Zweijährige im Schlafanzug in die Kita gehen und ich musste so dringend zur Arbeit!“ ruft spontan eine der 40 eingeladenen Kita-Erzieherinnen, die sich auf der GRIPS-Probebühne eingefunden haben. „Wahnsinn, das Stück ist doch nicht nur was für die Kleinen, das müsst ihr unbedingt auch abends speziell für Erwachsene zeigen!“

Ganz ernst meinen die Erzieherinnen das und reden dabei über ein Theaterstück für Menschen ab 2 Jahren. Das GRIPS Theater hat die Erzieherinnen als Fachpublikum für die Allerkleinsten eingeladen, gesehen haben sie Auszüge aus der Inszenierung „aneinander – vorbei“ für die Zielgruppe 2+. „Zauberhaft!“, „Wundervoll!“, „Berührend!“, so haben alle das Stück erlebt, der Zauber hängt noch in der Luft.

Einzig, ob Zweijährige sich 30-40 Minuten konzentrieren könnten, wurde als Einwand gebracht – und sogleich von den Kolleginnen abgeschmettert. „Das ist doch so spannend, was sie hier erleben, das ist gar kein Problem!“. Skeptisch waren im Vorfeld die Erzieherinnen ja schon, was das denn soll, das Theater für die Allerkleinsten. Eine Skepsis, mit der sie nicht allein sind.

„Muss man denn jetzt auch noch im Zuge des ganzen Frühbildungswahnsinn Theater für die Zweijährigen anbieten?“ war auch der erste, missmutige Gedanke von Stefan Fischer-Fels, als ihm zu seiner Düsseldorfer Intendanz seine Dramaturgen mit diesem, damals in Deutschland noch ungewohnten Genre ankamen. Puppen- und Kasperletheater ist ja bekannt als Theater für die Kleinen, aber wie soll denn das gehen mit Schauspielern?

Damals war das „Theater für die Allerkleinsten“ noch ganz jung, es hat sich seitdem als ein ganz eigenes, zauberhaftes Genre entwickelt, das im besten Fall wie ein Wunder über die Kinder, ihre erwachsenen Begleiter und die Schauspieler kommen kann. Wer das selbst erlebt hat, fragt nicht mehr nach der Legitimation, rümpft nicht mehr die Nase, ob das wirklich nötig wäre, jetzt noch die Kleinsten mit Frühbildung zu traktieren.

Auch Stefan Fischer-Fels hat das praktische Beispiel sofort verzaubert, ihm war aber ebenso klar, dass das Theater für die Allerkleinsten eine Theaterform ist, die auch die anspruchsvollste ist. „Man muss sehr genau die Erfahrungs- und Wahrnehmungswelt der Zwei- und Dreijährigen studieren und sich ganz und gar darauf einlassen“, beschreibt Stefan Fischer-Fels, der Künstlerische Leiter des GRIPS Theaters, die Herausforderung dieses Genres und die besondere Verantwortung, die man als Theatermacher damit übernimmt.„Die Schauspieler müssen mit viel sensibleren Antennen spielen, als es ohnehin im Kinder- und Jugendtheater der Fall ist.“

Unter seiner Leitung entstanden im Jungen Schauspiel Düsseldorf drei Produktionen für die Allerkleinsten, eine Abenteuerreise auch für die erwachsenen Künstler. „Du nimmst zum Beispiel ganz banale Alltagshandlungen und formst sie. Und wenn du das behutsam und mit den richtigen Grundannahmen machst, dann kannst du bis zu 40 Minuten lang bei den kleinen Kindern geradezu die Gehirnvernetzungen sich explosionsartig vermehren sehen.“

Dass nun ausgerechnet das GRIPS Theater mit seinen realistischen Stücken sich damit beschäftigt, ist neu. Seit 43 Jahren liegt hier das Einstiegsalter für einen Theaterbesuch bei fünf Jahren. „Wir haben darüber nachgedacht, was in der GRIPS-Kiste für die Allerkleinsten drin sein und wie das funktionieren könnte, und da sind wir mit dem Regisseur Frank Panhans auf die kleinen Wunder und komischen Missverständnisse in der Begegnung von Kindern und Erwachsenen gekommen, vom Aufstehen bis zum Zubettgehen ist das ja ein großer Balanceakt jeden Tag – für beide Seiten“, erzählt Stefan Fischer-Fels vom Entstehungsprozess. „Unser Stück „aneinander – vorbei“ wird Momente der Begegnung im Alltag beschreiben, flüchtige Momente, wenn ein beglückendes „aneinander“ entsteht, ebenso wie Momente, wenn man aneinander „vorbei“ lebt. „Momente des Glücks“ könnte der Untertitel sein.“

Und Frank Panhans ergänzt: „Alltagssituationen sind wirklich ein neuer Ansatz in diesem Genre. Es gibt ja auch Aufführungen, bei denen zehn Minuten lang zwei Steine hin und her geschoben werden, oder man sich eine Sonne und einen Mond anguckt. Wir hingegen spielen Situationen aus dem Eltern-Kind-Alltag, auf einer ganz einfachen Ebene. Ohne jeglichen pädagogische Zeigefinger möchten wir diese schönen Momente in den Mittelpunkt stellen, wenn man sich aufeinander einlässt. Wenn man miteinander ist, und nicht versucht zu erziehen, sondern eine Beziehung zu dem Kind aufbaut. Das ist das Schwerste, denn dazu hat man oft im Alltag keine Zeit, weil man immer selber unter Druck steht, und doch ist es eigentlich das Ideal, wenn ein Kind sich gut entwickeln soll.“

Die Sprache nimmt erst langsam einen Platz ein in der Lebenswelt der Zweijährigen, genau hierin unterscheidet sich das „Theater für die Allerkleinsten“ von dem für die Kleinen, Mittleren und Großen: Es lässt sich nicht auf Sprache reduzieren, vielmehr werden alle Mittel der Kommunikation wie Bilder, Töne, Klänge, Bewegungen, Körper, Musik, Gesang, Licht, Gerüche und Materialien gleichwertig genutzt. „Als Material haben wir in „aneinander – vorbei“ Pappe und Pappkartons, mit denen man Räume oder beispielsweise einen Turm bauen kann, in die man reinkriechen, rauskriechen, zusammenklappen, darauf balancieren und Wege damit bauen kann. Der Schlagwerker Martin Fonfara unterstützt wiederum mit Klängen und Rhythmen das Bühnengeschehen“, so Frank Panhans, der sich schon seit Jahren mit den Grundbedingungen dieses Genres beschäftigt.

„Besonders ist auch, dass wir ganz eng mit unserem Publikum arbeiten, und zwar von Probenbeginn an bis zur Premiere.“ Zwei bis drei Mal in der Woche geht das Ensemble in Kindergärten, um genau zu sehen und zu erspüren, wie und wo sie mit ihrer Idee und den Spiel-Situationen die Zwei- und Dreijährigen abholen können. Vor Familien haben sie bereits Szenen getestet, wie auch vor den bereits erwähnten Erzieherinnen.

Das alles bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Art des Spielens, immer wieder müssen sich die Schauspieler neu auf ihr Publikum einstellen, zudem fehlt ja auch das feste Gerüst eines Textes. Eine große Umstellung, wie die GRIPS-Schauspielerin Alessa Kordeck während ihres Düsseldorfer Engagement lernen musste, aber auch eine lohnenswerte Erfahrung. „Wichtig ist, dass man ganz klar mit dem Körper Sachen erzählt. Kinder reagieren so sehr auf Bewegungen und verstehen Körpersprache viel mehr, als wir Erwachsenen denken. Als Schauspieler kann man viel mehr ausprobieren, man darf richtig verspielt sein. Und wenn man das gut und in Kommunikation und im richtigen Tempo macht, dann können die kleinen Kinder stundenlang zusehen, ohne ungeduldig zu werden. Das Tempo ist einfach auch ein anderes. Wo Erwachsene sagen ‚So, das hab’ ich jetzt verstanden. Weiter!’, lacht ein Kind beim fünften Mal immer noch. Das ist total schön.“

Dass die Allerkleinsten nach der Vorstellung die Bühne erobern und gemeinsam mit den Schauspielern und den Materialien spielen können, um das Gesehene im wahrsten Sinn des Wortes zu begreifen, ist ein wesentlicher Bestandteil des Genres. „Das Erstaunliche ist ja, das die Kinder uns vor der Vorstellung gar nicht kennen, wir Schauspieler sind ja völlig fremde Personen“, schwärmt Alessa Kordeck. „Nach 40 Minuten Theater hat man aber schon gemeinsam etwas erlebt, und das reicht für die Kinder, dass sie ganz vertrauensvoll mit einem spielen und das Bedürfnis haben, mit einem Sachen aus ihrem privaten Leben zu teilen. Das ist auch total schön.“

Alessa Kordeck steckt an mit ihrer Begeisterung für das Wunder dieser Augenblicke beim Theater für die Allerkleinsten: „Kinder sind erst mal total offen. Als Spieler muss man versuchen, genau da die Kinder abzuholen und auf die Reise mitzunehmen. Wenn man es dann noch schafft, dass auch die Erwachsenen sich auf diese Reise des gemeinsamen Erlebens einlassen, so dass das Stück ein gemeinsames Erzählen und Zugucken ist, dann wird man ein Wunder im Theaterraum erleben!“

Dem stimmt Frank Panhans zu: „Ich habe erlebt, wie mein Sohn eine Dreiviertelstunde lang gebannt auf meinem Schoß sitzt und auf die Bühne guckt.“ Auch er lädt die begleitenden Erwachsenen ein, sich diese Chance des gemeinsamen Theatererlebnisses nicht selbst zu nehmen: „Schade ist es dann nur, wenn die Erwachsenen sich nicht auch darauf einlassen, sondern währenddessen, wie ich selbst erlebt habe, beispielsweise die Väter während der Aufführung auf dem Smartphone ihre Emails checken. Das ist unglaublich schade, denn wir Erwachsenen haben mit einem Theaterstück für die Allerkleinsten die großartige Chance, erstens mit unseren Kinder gemeinsam etwas zu erleben, und zweitens uns ganz auf Augenhöhe unserer Kleinen zu begeben, in ihre Lebenswelt, ihr Erleben und Fühlen einzutauchen. Es geht uns zwar um einen theatralen Beitrag für die frühkindliche Entwicklung, aber nicht im Sinne eines Frühbildungsprogramms, sondern wir wünschen uns für die Allerkleinsten gemeinsam mit den Erwachsenen ein poetisches Erlebnis mit allen Mitteln des Theaters rund um ein paar Alltagsgeschichten.“

Der Poesie des Augenblicks sind die Erzieherinnen am Probenabend im GRIPS Theater ganz offensichtlich erlegen. Was sie mit beim „GRIPS für die Allerkleinsten“ gesehen haben, erleben sie täglich in ihrem Kita-Alltag. Die Gespräche über „ihre“ Kinder und ihr tägliches „aneinander – vorbei“ gehen im Foyer des GRIPS Theaters noch lange weiter.

 

„aneinander – vorbei“ ist ab 17. November 2012 im GRIPS Podewil, der kleineren Spielstätte des GRIPS Theaters zu sehen. Geplant sind Vorstellungen während der Woche am Vormittag für Kindergartengruppen, in den Ferien und am Wochenende für Familien. Berliner Kitas, denen der Weg zu weit ist, können das Stück auch zu sich einladen (Ansprechpartner GRIPS: Sabine Becker, T: 3974740).

Text: Anja Kraus

Das ausführliche Interview mit Regisseur Frank Panhans kann man hier lesen.