Jugendliteraturpreis 2012 – Nomierungen Kinderbuch

Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis sind sechs besondere Kinderbücher, spannend, lustig und berührend. Von Finn-Ole Heinrichs großartigem Frerk (in Berlin in der Neuköllner Oper auch auf der Bühne zu bewundern) bis zu Martina Widmers schaurigem Haus – tolle Bücher, die alle zu gewinnen verdient hätten.

Rose Lagercrantz/ Eva Eriksson: Mein glückliches Leben | ab 6 Jahre | 144 Seiten | Moritz Verlag | 978-3-89565-239-4 | 11,95 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
Die sechsjährige Dunne bilanziert ihr Leben nach Glücksmomenten – die ersten eigenen Schwimmzüge, der neue Schulranzen, ein geschenkter Frosch. Das Buch für Leseanfänger erzählt aber auch von der Angst vor der Schule, von Einsamkeit, Unsicherheit oder der Trauer über den Wegzug der besten Freundin. Dieser große Kummer zieht aber wiederum ein großes Glücksgefühl nach sich, wenn Ella Frida ihr schreibt: „Ich kann ohne Dich nicht leben.“ Denn so wird für Dunne der Schmerz der Trennung überwindbar.
In der Balance der Licht- und Schattenseiten unseres Seins gelingt der Autorin eine lebensbejahende Geschichte, ernsthaft und zutiefst berührend. Der von Angelika Kutsch exzellent übersetzte Text verbindet sich mit atmosphärisch akkurat abgestimmten Illustrationen. Die gelungenen Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Eva Eriksson zeigen auf treffende Art Auszüge der Handlung und machen die An- und Abwesenheit von Glück greifbar. Sie vermitteln tiefe Lebensweisheit auf einfachste Art. Genau so sollte ein Erstlesebuch sein: schön gebunden, nicht zu dünn, nicht zu dick, ein fröhliches Cover und innen so luftig und leicht, dass sich jeder Leseanfänger eingeladen fühlt.

 

Finn-Ole Heinrich/ Rán Flygenring: Frerk, du Zwerg! | ab 7 Jahre | 96 Seiten | Bloomsbury | 978-3-8270-5476-0 | 16 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
Ein wahrhaft „flumpes“ Buch ist dem Künstlerteam hier gelungen. Diese anarchische Phantasiegeschichte ist ein Kinderbuch, wie es kinderbuchhafter nicht sein könnte. Frerk ist eine Außenseiterfigur: Bügelfalten und spießiger Hemd-Pullover-Schick machen ihn zur Zielscheibe des Spottes. Auch zu Hause hat er es nicht leicht: Seine neurotische Mutter erlaubt keinen Fernseher, keinen Hund und überhaupt nichts, was Spaß macht. Und der Vater? Schweigsam. Einen Hund, sein Traum, wird er von seinenEltern niemals bekommen!

Gut, dass er wenigstens dieses merkwürdige Ei findet. Denn was da herausschlüpft, ist pure Subversion und Insubordination. Die skurrilen Zwerge aus dem Ei helfen Frerk, seine innere Stärke und Gelassenheit auch nach Außen hin zu entfalten. Frecher, fröhlicher und selbstbewusster geht Frerk aus der Begegnung mit den ungestümen Miniwesen hervor.

Der sprachgewandte, fabulierlustige und semantisch kreative Text Heinrichs ist mit frech-versponnenen Krakelbildern Flygenrings versehen. Frerk, du Zwerg! ist Quatsch in seinem allerbesten und allerfeinsten Sinne und ein Plädoyer für Anarchie, Mut und Selbstbewusstsein – und ein großer Vorlesespaß dazu.

Mehr über Finn-Ole Heinrich: www.finnoleheinrich.de
Frerk als Musiktheaterstück (ab 8 Jahre) an der Neuköllner Oper, Uraufführung am 3. September 2012, Spieltermine und mehr Info: www.neukoellneroper.de

 

Salah Naoura: Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums | ab 8 Jahre | 144 Seiten | Beltz & Gelberg | 978-3-407-79438-3 | 12,95 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
Wer dreimal lügt, dem glaubt man nicht. Und wenn man mit der Unwahrheit erst einmal anfängt, sind drei Lügen so gut wie nichts, denn es zieht ja jede Lüge immer mindestens eine weitere nach sich. Und schon ist die kapitale Katastrophe da.

„Du hast unser Leben zerstört!“, ist einer der ersten Sätze des Kinderromans. Der Ich-Erzähler Matti muss sich diese Anschuldigung seiner Mutter gefallen lassen. Sie hat ja nicht ganz Unrecht: Wegen Mattis Flunkern und Tricksen hat die Familie Arbeit und Wohnung in Deutschland aufgegeben, um in Finnland in das angeblich gewonnene Haus zu ziehen. Aber wann hätte Matti die Wahrheit aufdecken sollen? Als der Vater die Möbel zerlegt? Als Abschiede gefeiert werden? Jeder Moment schien Matti unbrauchbar.

Salah Naoura schenkt dem Leser einen Reigen von überzeugenden Familienszenen mit schrulligen, liebevoll gezeichneten Figuren. Mit Verve nutzt er Missverständnisse für große Situationskomik und schreibt dazu witzige Dialoge im kindlichen Ton und doch voller Lakonie. Und als Mattis Vater und dessen Bruder in Finnland aufeinander treffen, kann sogar Matti noch dazulernen, was Prahlerei, Flunkerei und Angeberei betrifft. Naoura überzeugt als Erzähler dieser turbulenten Familien-Abenteuergeschichte mit erfrischend skurrilen Ideen. Ein idealer Lese- und Vorlesespaß.

 

David Almond: Mina | ab 10 Jahre | 256 Seiten | Ravensburger Buchverlag | 978-3-473-36820-4 | 14,95 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
David Almond legt mit diesem Roman die Charakterstudie einer ungewöhnlichen Protagonistin vor: Mina ist eine Rebellin, ein Mädchen mit eigener Meinung und Haltung. Sie ist kindlich und frühreif zugleich, übermäßig sensibel und in hohem Maß denk- und sprachbegabt. Ein Kind, das aus dem Rahmen des Üblichen fällt, exzentrisch und in den gewohnten Kategorien nicht zu fassen ist. Die Lehrer kommen mit ihrer Eigenwilligkeit nicht zurecht, so dass die Mutter Mina schließlich zu Hause unterrichtet.

Die Ich-Erzählung mit ihrer konsequenten Innensicht ist eine Liebeserklärung an die Phantasie, an die Neugier und an die Schätze des Wissens. Dabei zeigt der Autor auch die Kehrseiten von Minas Exzentrik, wie beispielsweise den Kummer des Außenseiterdaseins und die zeitweilige Einsamkeit.

Kunterbunte Stilmischungen, gewandt übersetzt von Alexandra Ernst, das abwechslungsreiche nicht-lineare Erzählen und ein breiter Fächer von Textsorten wie Erzählerbericht, Gedicht, Erzählung, Wortspiel oder Kurzgeschichte bilden ein Panorama aus Gegenwärtigem und Vergangenem, in dem eine kindliche Schreiberin querfeldein denken darf. Der Roman Mina ist das Mosaik einer einzigartigen, weit über ihr reales Alter hinaus gereiften Persönlichkeit, das Mut macht, ein unverwechselbares Individuum zu sein.

 

 

Patrick Ness/ Jim Kay: Sieben Minuten nach Mitternacht | ab 11 Jahre | 216 Seiten | cbj | 978-3-570-15374-1 | 16,99 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
Conors Mutter, mit der er alleine lebt, ist schwerkrank. Die Behandlungen gegen ihre Krebserkrankung schlagen weniger gut an als erhofft, so dass die ungeliebte Großmutter das Regiment im Hause übernimmt. Aber nicht nur sie greift entschieden in das Leben des Jungen ein, sondern auch ein mächtiges Monster, das sich aus der Eibe auf dem nahe gelegenen Friedhof zu entwickeln scheint, aber in Wahrheit in Connor selbst steckt.
Verlässlich um sieben Minuten nach Mitternacht taucht es auf – später auch einmal in der Schule, um Connor in einer Mobbing-Situation beizustehen – und jedes Mal lernt Connor eine Lektion mehr über das Loslassen eines geliebten Menschen.
Patrick Ness erzählt in der Verwobenheit von Wirklichkeit und Phantasie die Geschichte eines Trauerprozesses in all seinen Facetten von Kummer, Verzweiflung, Wut, dem Wunsch, dass es doch endlich so weit wäre, und von Scham darüber, dies zu denken. Bettina Abarbanell hat die Geschichte in einem würdigen Erzählton übersetzt. Die aus alten Mythen und Sagen entliehene Figur des Monsters ist eine überzeugende Metapher für das Unfassbare des Todes, für Endlichkeit, für die alte Frage nach dem Guten und nach dem Bösen. Sieben Minuten nach Mitternacht ist ein poetischer und kraftvoller Roman, der dem kindlichen Leser eine wichtige Geschichte über das Leben erzählt – und über dessen Ende.

 

Martina Widmer: Das schaurige Haus | ab 11 Jahre | 208 Seiten | Beltz & Gelberg | 978-3-407-79995-1 | 12,95 Euro | bei Amazon bestellen

Jurybegründung:
Martina Wildner erzählt eine deutsche Gruselgeschichte, vielschichtig und unvorhersehbar: Hendrik ist mit seiner Familie aus Sachsen in ein Allgäuer Dorf gezogen. Der Kulturschock ist vorprogrammiert; die Dorfbewohner nehmen die Zugereisten nicht gerade freudig auf. Hendriks kleiner Bruder verarbeitet das Erlebte in seinen Albträumen, während Hendrik versucht, sich mit der neuen Umgebung, seinen Mitschülern und mit den Marotten der Landbevölkerung zu arrangieren.
Die Autorin bleibt stets stilsicher in der Perspektive des geplagten Hendrik und würzt ihre Erzählung mit genretypischen Motiven wie Geheimtüren, Giftmorden, einer rätselhaften alten Frau, modrigem Interieur oder der Fama von häufig wechselnden Bewohnern eines Hauses, auf dem ein Fluch liegt.
Wildner zeichnet das Dorfleben im Allgäu mit der gebotenen Drastik ohne aber die Region und ihre Bewohner je vorzuführen und belässt den raffinierten Plot in der Schwebe zwischen Aberwitz und Wahrscheinlichkeit. So erzeugt sie mit scheinbarer Leichtigkeit eine unheimliche Atmosphäre, die den Leser fesselt. In diesem Roman verbinden sich spannende Dramaturgie und authentische Szenen und Figurendarstellungen zu einem wunderbaren Schauerkrimi für ältere Kinder.