Marie Sophie von Bibra beschäftigt sich bei Readly täglich mit Magazin-Covern. In diesem Gastbeitrag lässt sie uns an ihren Gedanken zur Bedeutung von Titelseiten und den Veränderungen in der Magazinwelt in den letzten Monaten teilhaben.
Vor ein paar Wochen schrieb ich einen Artikel über die Magazin-Cover, die mich 2020 am meisten bewegt haben. Ich wollte zeigen, wie bewegt ich war von einem Jahr, in dem sich so viele greifbare Veränderungen zeigten: Die Themen waren lauter, die Cover waren besonderer, die Held:innen wurden endlich realer.
Was ich nicht erwartet hatte, waren die Reaktionen auf meinen Artikel, vor allem von jüngeren Frauen. Kurze Kommentare, lange Geschichten, viele Emojis – alle hatten etwas gemeinsam: Sie fühlten sich mehr gesehen, sie erkannten auf den Covern mehr Frauen, die wie sie selbst aussahen, sie sahen, wie sich die Schlagzeilen veränderten, sie sahen unterschiedliche Körperformen, Hautfarben, Berufe.
Wenn wir jemals nach einer Bestätigung dafür gesucht haben, dass wir Veränderungen brauchen und dass wir auf dem richtigen Weg sind, dann sollte dieses Feedback uns ermutigen.
Was mich hoffnungsvoll stimmt, ist, dass wir 2021 damit begonnen haben, weiter in diese richtige und notwendige Richtung zu gehen. Kleine Schritte, aber immerhin vorwärts. Kamala Harris wird die erste (aber in ihren eigenen Worten, „sicher nicht die letzte“) weibliche, schwarze und asiatisch-amerikanische Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten.
Als sie das Podium betritt, zieht sie die Schultern zurück, reckt das Kinn in die Höhe und atmet sichtlich ein. Es ist ein kurzer Moment, für viele wahrscheinlich unsichtbar, aber ein entscheidender Moment. Ein Moment, in dem man sich bereit macht, etwas zu tun, für das man kämpfen musste, für das man mutig sein musste und von dem man weiß, dass es für andere von Bedeutung sein wird. Eine Art Premiere, die es anderen Frauen ermöglichen wird, zu folgen, weil eine Tür geöffnet wurde.
Es kann, muss aber nicht die Position der Vizepräsidentin sein. Der Punkt ist, dass wir alle Einfluss auf die Menschen um uns herum haben. Wir haben die Verantwortung und die Möglichkeit, nach Türen zu suchen und diese zu öffnen. Magazin-Cover sind wichtige und mächtige Türen, weil sie von so vielen gesehen werden und sie ein besonderes Zeichen der Anerkennung und Leistung darstellen.
Deshalb ist es wichtig, dass Verleger:innen und Journalist:innen sich der Türen bewusst sind, die sie öffnen, der Verantwortung und der Chance, die damit einhergeht, und des Unterschieds, den sie für die Frauen heute und in der Zukunft machen können.
Einige meiner Lieblings-Cover 2021 sind
- Kamala Harris auf dem Februar-Cover der Vogue US: heftig umstritten, aber schon jetzt ikonisch
- das Model Aweng Ade-Chuol, die ihre Frau auf dem Januar-Cover der Elle UK küsst, nachdem sie online schreckliche homophobe Beschimpfungen wegen ihrer Sexualität ertragen musste
- die Februar-Ausgabe der Cosmopolitan UK, in der verschiedene Körpertypen gefeiert und diskutiert werde
- Akon Changkou als Coverstar der März-Ausgabe der Vogue Deutschland mit ihrem Blick in die Zukunft
- die Januar-Ausgabe von Stylist UK mit der „Untamed“-Autorin Glennon Doyle und ihren mutigen, ermächtigenden Wahrheiten für uns Frauen, nämlich dass wir unsere eigenen Geschichten schreiben und an sie glauben sollen
- die großartige Amanda Gorman auf dem Cover des Time Magazin im Februar
All diese Cover haben mich zum Nachdenken und Teilen angeregt, zum Lesen, zum Reflektieren darüber, warum sie wichtig sind, welche Türen sie öffnen und welche Träume sie inspirieren werden. Für mehr junge Mädchen und Jungen, die an das glauben, was möglich ist.
Und doch gibt es leider auch eine andere Seite zu dieser positiven Entwicklung, denn während wir in einigen Bereichen vorwärts gehen, bewegen wir uns in anderen zurück. Eines der vielen Themen ist die Gewalt gegen Frauen, ein anderes die sinkende Zahl von Frauen in Teilen der Arbeitswelt.
Die Pandemie hat in mehr als nur einem Bereich einen Tribut von den Frauen gefordert. Deren unbezahlte Arbeit hat in größerem Umfang zugenommen als bei Männern. Im Dezember 2020 waren alle Arbeitsplätze, die in der US-Wirtschaft verloren gingen, von Frauen* besetzt. Wir haben Zahlen, Fakten und viele Beispiele dafür gesehen, dass diese globale Krise zu einer Verstärkung traditioneller sozialer und kultureller Geschlechternormen und zu einer Umkehrung der Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter geführt hat.
Deshalb ist das Cover des New York Magazine von Anfang Februar so wichtig: Es zeigt eine sich windende Schlange, die die Millionen von Frauen repräsentiert, die während der andauernden Pandemie aus der Arbeitswelt gedrängt wurden. Der Artikel erzählt die Geschichten von Frauen, die gezwungen werden zu gehen, und von denen, die aus „freien Stücken“ gehen – obwohl es in Wirklichkeit nie ihre Wahl war.
Es ist die alte Geschichte, wie unser System, unsere Gesellschaft und traditionelle Geschlechternormen für sie entschieden haben, weil von Frauen erwartet wird, dass sie die richtige Wahl treffen, für ihre Familien, ihre Kinder, ihre Eltern, aber sehr selten für sich selbst. Dieser Artikel sollte eine Pflichtlektüre sein und es ist ein wütender, leidenschaftlicher und wichtiger Aufschrei nach Veränderung.
Bereits im Oktober hatten Berichte der Allbright-Stiftung in Deutschland gezeigt**, dass als Folge der Pandemie der Anteil weiblicher Führungskräfte in Vorständen börsennotierter Unternehmen auf das Niveau von 2017 gesunken ist. Dieser Umschwung kam dadurch zustande, dass Frauen sich um ihre Familien kümmern mussten und viele Unternehmen sich auf die bequemste Art und Weise um das Krisenmanagement kümmerten: indem sie auf bewährte männliche Manager setzen.
Das heißt, Deutschland macht im Vergleich zu vielen anderen Ländern Rückschritte. Umso wichtiger ist es, dass mit „Courage“ ein Magazin in die deutsche Verlagslandschaft kommt, das sich vor allem weiblichen Karriere-, Finanz- und Lebensthemen widmet und auf dessen Titelseiten echte, inspirierende Frauen zu sehen sind, wie etwa Amorelie-Gründerin Lea Sophie Cramer.
Zu dieser gegenläufigen Entwicklung gehört auch, dass Hass, Gewalt und Respektlosigkeit gegen Frauen immer noch eine sehr reale und gefährliche Bedrohung darstellt. Die häusliche Gewalt hat sich durch die Lockdowns deutlich verschärft, was inzwischen von der UN als „The Shadow Pandemic“*** bezeichnet wird.
Der Spiegel widmete seinen Leitartikel und die Titelseite einer seiner Februar-Ausgaben dem Thema „Feindbild Frau“ und hob hervor, dass der online erlittene Missbrauch nur ein kleiner Bruchteil der Gewalt ist, die oft in der Realität stattfindet, und dass selbst Behörden dies oft ignorieren, obwohl das Ausmaß in Wirklichkeit so viel schlimmer ist, als wir vielleicht denken.
Der Artikel ist schmerzhaft und herzzerreißend zu lesen, denn es passiert überall um uns herum, jeden Tag. Ich glaube, man kann gar nicht genug betonen, wie wichtig es ist, dass dieses Thema hochgehalten wird, dass wir alle laut darüber diskutieren, dass die Stimmen der Opfer und Überlebenden gestärkt werden und dass endlich die Fragen an die Täter gestellt werden, anstatt von den Opfern zu verlangen, sich verteidigen zu müssen.
Wired UK feierte seine Ausgabe der Changemaker mit Seyi Akiwowo auf dem Cover und sie hätten keine bessere (oder stärkere) Wahl treffen können.
Sie ist die fantastische Gründerin von Glitch!, einer Organisation, die sich der Bekämpfung und Beendigung von Online-Missbrauch gegen Frauen verschrieben hat. Für sie stellte die Pandemie vom ersten Tag an eine Bedrohung dar, um es in ihren eigenen Worten auszudrücken, denn „erhöhte Internetnutzung bedeutet erhöhtes Risiko, online missbraucht zu werden.“ (Wired UK)
Diese Berichte sind ermächtigend und unbequem und sie sind notwendig. Wir brauchen Weckrufe, wir brauchen Diskussionen, wir brauchen Fakten und wir brauchen Stimmen, die uns leiten.
Die Themen, denen wir uns stellen müssen, um Frauen wirklich zu stärken, erfordern, dass wir alle zusammenarbeiten – Leser:innen, Nutzer:innen, Verleger:innen, Journalist:innen – um mutig zu sein, sich dem Unbequemen zu stellen, über das Offensichtliche hinauszuschauen. Das ist harte Arbeit, aber sie ist wichtig.
Denn es geht hier um unsere gemeinsame Zukunft, um bessere Lebensumstände, Gleichberechtigung und eine stärkere Wirtschaft und diverse Gesellschaft. Und es geht um junge Mädchen (und Jungen), die mit dem Gedanken aufwachsen sollen, dass alles möglich ist.
Kein Fortschritt ist zu klein, es nicht wert zu sein. Ob es ein Artikel, ein Cover, ein Interview oder ein Gespräch ist – so viele Türen können geöffnet werden, und so viel Gutes kann folgen. Wir müssen nur mutig genug sein, den ersten Schritt zu machen, tief einzuatmen und es zu wagen.
Text: Marie Sophie von Bibra
Quellen
*American Progress: „When Women Lose All The Job“; CNN: „The US Economy Lost 140,000 Jobs In December. All Of Them Were Held By Women“
**Allbright Foundation: „Germany’s Special Path“
***UN Women: „The Shadow Pandemic“ (before the pandemic, 243 million women aged 15-49 experienced violence by an intimate partner in 2019; we have to expect higher numbers on record for 2020)
Spiegel: „Feindbild Frau“ (paywall)