STADTGESTALTEN BERLIN – Der Circus Sonnenstich praktiziert Inklusion andersherum – die Artisten mit Down-Syndrom lassen Nichtbehinderte als Zuschauer und Trainingspartner an ihrer Spielfreude teilhaben. Die Leiter des Zentrums für bewegte Kunst, Anna-Katharina Andrees und Michael Pigl-Andrees über inklusive Begegnungen.
Samstagabend im Theater Thikwa in Berlin Kreuzberg. Hier findet gleich die Vorstellung „SWITCH. auss welt innen“ des Circus Sonnenstich statt. Das Ensemble Sonnenstich besteht aus 17 jungen Erwachsenen zwischen 23 und 30 Jahren. Die meisten von ihnen haben das Down-Syndrom. Das Publikum nimmt Platz, die Vorstellung ist gut besucht. Das Saallicht geht aus. „Stromausfall! Stromausfall!“, flüstert ein Zuschauer, ebenfalls mit Down-Syndrom, besorgt. Die Bühne wird langsam hell, Musik ertönt und die Artisten in trendig-fantasievollen Zirkuskostümen werden sichtbar.
„Wir haben drei Jahre an dem Stück gearbeitet“, sagt Anna-Katharina Andrees. Sie leitet gemeinsam mit ihrem Mann Michael Pigl-Andrees den Verein Zentrum für bewegte Kunst e.V., ist Projektleiterin, Regisseurin und Trainerin. Bei einer Trainingsreise entstand die Idee zum Stück, bei dem es um Träume, Wünsche, die Aussen- und die Innenwelt geht. „Bei solchen Reisen gibt es viele private oder intime Momente, die die Artisten sehr offen ausleben. Wie zum Beispiel das sich schönmachen für die abendliche Disko oder ausgiebiges Hanteltraining im Beisein der Gruppe. Wenn sie sich vor den anderen stylen oder trainieren fühlen sich die jungen Erwachsenen wie Popstars“, sagt die 37-Jährige. Im Stück findet sich eine Szene, bei der ein junger Mann mit Hanteln trainiert und dabei ein Männermagazin liest.
Feine Ironie ist nicht nur Teil der Regie, Ironie strahlen auch viele Artisten aus, die sehr charmant mit den Erwartungen des Publikums spielen. Ihre Darbietungen wechseln zwischen Gruppenchoreografien, Kleingruppennummern und Soloauftritten, in denen die Künstler hohes artistisches Geschick mit Ringen, Bällen, Diabolos, Trapez oder auf dem Seil zeigen. Bei den tänzerischen Sequenzen entstehen poetische und humorvolle Bilder. Der Abend vermittelt eine große Verbundenheit und Lebensfreude von Ensemble und Team, das die Umbauten erledigt und ab und zu Hilfestellung gibt.
Das Team besteht aus zwölf Trainern, darunter Zirkuspädagogen, Artisten, Physiotherapeuten und Kreativlehrer. Insgesamt trainieren pro Woche ca. 100 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Zentrum für bewegte Kunst. Die meisten Kursteilnehmer sind Menschen mit Down-Syndrom und anderen Beeinträchtigungen, pro Gruppe können aber auch bis zu fünf Kinder oder Jugendliche ohne Beeinträchtigungen teilnehmen. „Das ist Inklusion mal andersherum“, sagt Michael Pigl-Andrees. Der 47-Jährige ist Diplom-Sozialpädagoge mit Schwerpunkt Spiel- und Theaterpädagogik und seit 1997 künstlerischer und pädagogischer Leiter des Circus Sonnenstich, der vor 18 Jahren als eine Gruppe des Theater Rambazamba begann und sich vor dreieinhalb Jahren in Freundschaft davon trennte. Die Zirkusgruppe expandierte stark und brauchte ein eigenes Zentrum.
Wenn das Ehe- und Leitungspaar von ihrer Arbeit erzählt, ist es kaum zu bremsen. Man spürt sofort, mit welcher Leidenschaft sie für ihr Projekt brennen. „Das ist nicht nur ein Job, es ist eher wie in einer Großfamilie. Aber wir achten dabei sehr auf Professionalität und gute Kommunikation, auch im Team“, sagt Anna-Katharina Andrees. „Bei uns sind die Kursteilnehmer wie zu Hause, das schafft Verantwortung. Es gibt auch kein Muster im Umgang mit Menschen, du musst jeden Tag neu auf die individuellen Bedürfnisse eingehen, das ist unser Anspruch“, ergänzt ihr Mann, der davon träumt, eines Tages ein eigenes Theaterhaus als inklusives Begegnungszentrum in Berlin zu leiten.
Unterstützende Kooperationen wie z.B. mit dem Chamäleon Theater Berlin, dem Circus Uppsala in St. Petersburg und der Palestinian Circus School in Ramallah machen da Mut, denn Bedarf für inklusive Projekte gibt es allemal. Im September zeigt der Circus Sonnenstich „Switch. auss welt innen“ auf einem renommierten Zirkusfestival in St. Petersburg.
Nach zwei Stunden ist die Show im Theater Thikwa zu Ende, der Schlussapplaus beginnt. Jeder Artist tritt einmal vor und taucht in das begeisterte Klatschen des Publikums ein. Ein Darsteller ruft dabei wieder und wieder „Yeah!“, eine Akrobatin schlägt ein Rad, ein anderer stellt sich in Muskelmann-Pose auf und wieder eine andere Artistin wirft Kusshände ins Publikum. Es ist die ganz große Geste, die ganz große Freude!
Das ZBK ist ein künstlerisches Projekt mit sozialer Verantwortung für eine inklusive Gesellschaft. Der Verein besteht seit 2011 und möchte möglichst vielen Menschen mit Down-Syndrom und anderen Beeinträchtigungen ermöglichen, als kompetente, selbstbestimmte und strahlende Künstlerpersönlichkeiten im Zentrum der Gesellschaft sichtbar zu sein. Bislang erhält der Verein keine staatliche Zuwendung, sondern trägt sich aus Kursbeiträgen, Förderung durch Stiftungen und Spenden.
Foto: Sarah Winborn | Text: Sonja Kloevekorn