Die Musikpädagogin und Sängerin Liza John weiß aus eigener Erfahrung, wie wertvoll gemeinschaftliches Singen für das Selbstbewusstsein und das gegenseitige Vertrauen sein kann. Seit März leitet sie den Kinderchor „cOHRe“ in der EJF-Notunterkunft für Geflüchtete in der Bitterfelder Straße in Marzahn. In den neu eingerichteten Räumen ist Platz für Spaß und sorgenfreies Beisammensein – und vor allem für Freunde und Freundinnen von außerhalb.
„Ich bau‘ ne Stadt für dich, aus Glas und Gold und Stein“ – jeden Dienstagnachmittag schallt ein Lied besonders laut durch die Straßen von Marzahn. Es kommt voller Elan aus den Räumen der Marzahner Notunterkunft für Geflüchtete des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks, fliegt einmal über die S-Bahngleise, hinüber zu den Wohnhäusern auf der anderen Seite und von dort wieder zurück.
Hier im Industriegebiet des Bezirks leben über 400 Menschen, die aus ihrer Heimat in Syrien, Irak, Afghanistan und noch vielen Ländern mehr vor dem Krieg und seinen Folgen flüchten mussten. In Marzahn fanden sie vor knapp zwei Jahren ein Zuhause. Es ist ein Zuhause auf kleinem Raum, geteilt mit Menschen, die sie bis dahin noch nicht kannten.
Um den vielen Kindern, die hier aufwachsen, das Ankommen zu erleichtern, hat das Team der Unterkunft inzwischen ein vielseitiges Programm aus Sport- und Kulturangeboten auf die Beine gestellt. Seit März gibt es unter anderem den Kinderchor „cOHRe – Jedem Kind seine Stimme“. Der besondere Name setzt sich aus den drei Worten Chor, Ohr und cor, was im Lateinischen Herz bedeutet, zusammen.
Angeleitet werden die Sänger und Sängerinnen zwischen sieben und 14 Jahren dabei von der Musikpädagogin und Musikerin Liza John. Nach ihrer klassischen Gesangsausbildung während ihres Studiums in Hannover ist der erste eigene Chor, den die gebürtige Berlinerin leitet. Schon lange unterrichtet Liza andere Chöre in Stimmbildung oder singt selbst in ihrem A cappella-Projekt str8voices.
Schließlich wurde sie von der Ehrenamtskoordinatorin Tiina Hans-Jürgens gefragt, ob sie den Kinderchor der Unterkunft übernehmen will: „Wir sind mittendrin und irgendwie doch fernab mit diesem Standort der Unterkunft, deshalb müssen wir Wege finden, wie wir mit den Menschen aus dem Kiez zusammenkommen.“
Um Nachbarschaft zu fördern, plante die Kulturpädagogin die Gründung des Chors und erhielt vom Masterplan für Integration und Sicherheit aus dem bezirklichen Integrationsfonds auch den Zuschlag. Seit März trällern jede Woche in den neu gestalteten Räumen der Notunterkunft um die 18 Kinder mit ganz unterschiedlichen Erstsprachen und ganz unterschiedlichen Geschichten.
Ähnlich wie in einer Kita sieht es hier aus. An den Wänden hängt Selbstgemaltes, es gibt Instrumente und einen Rasen hinter dem Haus. Das Team bietet viele verschiedene Aktivitäten wie Judo oder Hausaufgabenbetreuung für die Kinder in der Notunterkunft an. Der Chor richtet sich außerdem noch an alle interessierten Kinder, die woanders leben.
„Integration hat zwei Seiten: Wir können nicht immer nur sagen, dass hier ankommende Menschen sich integrieren müssen, indem sie die Sprache lernen und Arbeit finden, sondern ich finde, dass die Gesellschaft auch eine Verantwortung hat, Integration zu fördern“
sagt Tiina, die sich gemeinsam mit der Heimleiterin Sama Zavaree dafür einsetzt, dass auch Leute aus Marzahn und anderen Bezirken vorbei kommen oder die Kinder ihre Schulfreunde mitbringen.
Das Kinder- und Jugendhaus Bolle ist bereits mit von der Chor-Partie. Jeden Dienstag besuchen vier Kinder der Einrichtung ihre Freunde in der Notunterkunft. Liza findet, dass sie eine richtig tolle Gruppe geworden sind, die jederzeit die Tür offen lässt für neue Sänger und Sängerinnen:
„Mir ist wichtig, dass wir gemeinsam etwas entwickeln. Ich möchte hier niemandem meine Kultur beibringen, sondern wir machen gemeinsam einen dritten Raum auf. Wir erschaffen etwas Neues, Eigenes.“
Und so entstanden bereits ganz neue Versionen von Liedern wie „Stadt“ von Cassandra Steen und Adel Tawil oder auch arabisch- und englischsprachigen Songs. Alle besprechen dann gemeinsam die Inhalte der Texte und ersetzen sie teilweise mit Symbolen, sodass sie sich leichter merken lassen.
Doch neben den Liedern gibt es noch Unzähliges mehr, was man in einem Chor so lernen kann – und zwar ganz nebenbei:
„Erst später merkt man, was das gemeinschaftliche Singen alles gebracht hat. Also zum Beispiel den Zugang zu Sprache oder den Umgang mit anderen“,
sagt Liza John, die selbst ihr Leben lang in Chören gesungen hat. Aus eigener Erfahrung weiß sie, dass das gemeinsame Musizieren vor allem Selbstvertrauen gibt und eine Atmosphäre des Vertrauens schafft. „Es ist gut für Zunge, Kopf und Seele!“
Die Notunterkunft vom EJF wurde im letzten Jahr in eine Gemeinschaftsunterkunft umgebaut und entspricht seit Juni auch diesen Standards. Während ein Ziel bleibt, dass die Familien von dort aus in eine eigene Wohnung ziehen können, bleibt das Haus dadurch trotzdem langfristig bestehen und wird für manche ein dauerhaftes Zuhause. Höchste Zeit also, dass Nachbarn sich kennenlernen.
„Wir sind hier und unsere Türen sind offen“, sagt Tiina Hansjürgens, die hofft, dass am Chor – die Teilnahme ist übrigens kostenlos – bald noch viel mehr Kinder aus ganz verschiedenen Kiezen teilnehmen. Bisher ist das Projekt nur bis Dezember finanziert, jedoch hoffen die Initiatorinnen, dass er auch im nächsten Jahr weiter stattfinden kann. Auch Liza John freut sich über alle, die sich den Chor einmal anschauen möchten:
„Integration muss ja gar nicht schwer sein. In diesem Fall muss man nicht viel mehr tun, als einen Chor zu besuchen.“
Das macht Berlin zwar nicht zu einer Stadt aus Glas, Gold und Stein, aber zu einer, bei der eine gute Nachbarschaft nicht davon abhängt, woher man kommt und welche Sprache man spricht.