Dr. Eliane Retz berät Eltern nach dem familiensystemischen Ansatz und gibt in ihren Podcasts Tipps, wie sich Konflikte liebevoll lösen lassen. Warum Kinder so sind wie sie sind, steht im Mittelpunkt ihrer Elternberatung. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie man sich schon vor der Geburt des Babys darauf vorbereiten kann, von Beginn an eine gute Bindung aufzubauen.
Wie bekomme ich wohl diese kleinen Ärmchen in den Body? Wie oft muss ich die Windeln wechseln? Was ist Clusterfeeding und gibt es noch einen Platz im Hypnobirthing-Kurs?
Ein Kind zu bekommen, bedeutet, das eigene Leben umzukrempeln. In dem Moment, in dem wir den positiven Schwangerschaftstest in Händen halten, verändert sich einfach alles.
Ein Baby wächst in uns heran und plötzlich tragen wir nicht mehr nur für uns selbst Verantwortung, sondern auch für das kleine Lebewesen in uns, das fortan unsere ganze Liebe geschenkt bekommt und einen Großteil unserer Aufmerksamkeit einnehmen wird.
Wissen macht den Unterschied in dieser Situation, die für Mütter und Väter einen großen Wendepunkt im Leben darstellt. Wir haben darüber mit Dr. Eliane Retz gesprochen.
Abgesehen von allem Organisatorischem, was ist elementar bei der Vorbereitung auf ein Baby und die Elternschaft?
Häufig haben werdende Eltern sehr idealisierte Vorstellungen von sich selbst und auch von dem Baby. Innere Bilder sind wichtig, sie verleihen Mut und steigern die Vorfreude auf das Kind, aber die Realität ist doch oft ernüchternd.
Das neue Kind füllt spätestens ab der Geburt Elternschaft mit Realität. Das heiß geliebte und sehnlichst erwartete Kind weint vielleicht sehr viel und lässt sich kaum ablegen.
Darum ist es wichtig, sich zwar den schönsten Vorstellungen hinzugeben und sich innerlich die anstehende, sehr intensive Zeit auszumalen.
Gleichzeitig ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, dass alles auch ganz anders kommen kann. Das Baby ist eine Blackbox. Gut ist also eine frühzeitige Auseinandersetzung mit der Unsicherheit. Nicht alles lässt sich planen, am allerwenigsten die Geburt.
Du beschreibst die bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung als Geschenk fürs Leben. Was hat es damit auf sich?
Das Verhalten eines kleinen Kindes wird für Eltern sehr viel besser verstehbar, wenn sie ein Wissen über die Bindungsentwicklung in der frühen Kindheit erworben haben.
Eine wichtige Erkenntnis für Eltern ist dabei, dass die Aufnahme einer sicheren Bindung keine komplizierte Wissenschaft ist, sondern sich gut im Alltag mit dem Baby umsetzen lässt.
Man weiß heute durch die Bindungstheorie und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, dass es zumindest am Anfang ausschlaggebend ist, sehr prompt auf die Signale des Kindes zu reagieren. Gut ist, nur wenige Sekunden verstreichen zu lassen.
Für viele Babys ist es eine sehr positive Erfahrung, wenn sie gestillt werden, bevor sie intensiv weinen. Also dann, wenn sie mit Feinzeichen wie Saugbewegungen auf sich aufmerksam machen.
Kaum ein Kind schreit sofort los, es findet bereits viel früher eine Kommunikation statt. Schnelle Reaktionen der Eltern halten Stress vom Baby fern, sie verhindern so eine Überstimulation, was für das sich rasant entwickelnde Gehirn von großem Vorteil ist.
Und das hat auch rein gar nichts mit Verwöhnen zu tun. Wenn ich jemanden verwöhne, bedeutet das, ich übernehme etwas für eine andere Person, was diese auch selbst hätte erledigen könnte.
Ein Baby ist jedoch komplett abhängig, was seine körperlich wie auch psychische Versorgung angeht. Es ist noch nicht in der Lage, sich selbst zu regulieren.
Wie können Eltern diesem Anspruch gerecht werden?
Klar, Eltern geraten auch mal an ihre Grenzen und fragen sich: Was passiert, wenn ich nicht immer umgehend reagiere? Und was ist, wenn das Baby schreit, obwohl ich sofort zur Stelle war?
Kinder spüren aber schon sehr deutlich, ob die Bindungsperson ein grundsätzliches Bemühen zeigt, es möglichst gut machen zu wollen. Elternschaft hat auch ganz viel mit „trial and error“ zu tun.
Alle dürfen Erfahrungen sammeln und lernen. Gut läuft es, wenn Bezugspersonen nach ein paar Wochen einschätzen können, ob es sich beispielsweise um ein Hunger- oder ein Müdigkeitsweinen handelt.
Dieses Verhalten differenziert entschlüsseln und beantworten zu können, stärkt die Bindung, weil es dann nicht ständig zu Missverständnissen kommt.
Wenn sich zum Beispiel das Baby weinend von der Brust abwendet, fühlt sich die Mutter eventuell abgelehnt, das Baby verlangt aber vielmehr danach, gehalten und getragen zu werden.
Wenn sich Eltern immer wieder hinterfragen und es zu Aha-Erlebnissen kommt, stärkt das die Bindung und das Vertrauen wächst auf beiden Seiten. Missverständnisse sind in der frühen Eltern-Kind-Beziehung also durchaus einkalkuliert.
Was bedeutet Co-Regulation?
Eltern mindern Stresszustände, wenn sie co-regulieren. Das heißt nicht, dass das Kind keine Frust- oder Stresszustände erleben soll. Auch Eltern dürfen die Gefühlsäußerungen ihrer Kinder durchaus als anstrengend empfinden.
Aber wenn Eltern ein Interesse daran haben, ihr Kind gut zu begleiten und die Bindung zu stärken, dann wenden sie sich in herausfordernden Situationen nicht ab, sondern bleiben in Beziehung.
Sie sagen dann: „Dir geht es gerade nicht gut, mein Job ist es, dir da durchzuhelfen. Ich kann es dir nicht abnehmen, aber ich bleibe und mache dir die Situation erträglich.“
Beim Säugling wäre das also: tragen, Clusterfeeding*, stillen (wenn möglich) und später bei älteren Kindern Wut und starke Gefühle aushalten und Ruhe bewahren.
Ab wann können sich Kinder selbst regulieren?
Erste Versuche, sich Stress zu entziehen, zeigen Säuglinge, wenn sie den Blick abwenden, um sich zu schützen. Manche können das mit sechs oder sieben Monaten.
Anderen, besonders reizoffenen Kindern, gelingt das erst sehr viel später. Soziale Emotionen wie Stolz oder Scham entwickeln sich dann erst im Kleinkindalter. Wir Menschen haben also eine wirklich lange emotionale Reise vor uns und es bringt nichts, Kinder zu überfordern.
Es ist darum wirklich sinnvoll, sich zu informieren, wann das Kind welchen Entwicklungsstand erreicht. Erst ab vier oder fünf Jahren sind Kinder in der Lage, sich in andere Personen hineinzuversetzen.
Eigene mögliche Verletzungen oder Kränkungen sollten nicht mit dem Kind besprochen werden sondern besser mit anderen Bezugspersonen.
Eine gute Möglichkeit, in Austausch zu kommen, könnte allerdings sein, das Erwachsenen-Ich zu verlassen und in einzelnen Fällen von eigenen Kindheitserfahrungen und -gefühlen zu berichtet. Dafür haben Kinder meist schon im Kindergartenalter sehr gute Antennen und auch ein großes Interesse.
Bleibt die Frage: Wann ist eine Bindung sicher und stabil?
Das Schicksal der heutigen Eltern ist es, sich ständig zu evaluieren. Eine sichere Bindung ist jedoch kein Meilenstein, der irgendwann erreicht wird, vielmehr ist man tatsächlich die ganze Elternschaft über gefordert, die Beziehung zu seinem Kind immer weiter zu pflegen.
Wer aber zuverlässig ist, verantwortungsbewusst und nicht allzu verzagt, kann sich entspannen. Eine sichere Methode, dem Neugeborenen viel Geborgenheit zu schenken, ist es, diesen Tragling auch wirklich oft bei sich zu tragen.
Ebenso lassen Co-Sleeping, spielen, gemeinsam Spaß haben, singen, lachen und Blickkontakt Eltern und Kinder eng zusammenwachsen. Und natürlich ist der feinfühlende Austausch, also miteinander reden, ein Schlüssel für Verständnis und enge Verbundenheit.
*In den ersten Wochen nach der Geburt haben Babys oft eine Phase, in der sie sehr häufig trinken möchten, manchmal stündlich oder sogar dauerhaft. Clusterfeeding bedeutet, dem Baby dieses intensive Anlegen zu ermöglichen – immer dann, wenn es möchte. Diese Zeiten sind temporär, dienen der Etablierung der Laktation und sind physiologisch zu erklären. Oft erreicht das Baby danach neue Entwicklungsschritte.
Dr. Eliane Retz, ist Pädagogin, systemische Beraterin, Autorin und Mutter von zwei Kindern. Schon seit vielen Jahren berät sie Eltern nach dem familiensystemischen Ansatz.
Dabei bezieht sie sich auf aktuelle Erkenntnisse der Bindung- und Entwicklungsforschung, denn neben Intuition und einem gesunden Bauchgefühl sind Informationen der Schlüssel, um Babys und Kinder (besser) zu verstehen.
Die Ratgeber von Dr. Eliane Retz und Christiane Stella Bongertz
Eliane Retz, Christiane Stella Bongertz: Wild Child – Entwicklung verstehen, Kleinkinder gelassen erziehen, Konflikte liebevoll lösen, 384 Seiten, Piper Verlag, 02/2021, 18 Euro.
Bei eurem Lieblingsbuchladen vor Ort, bei genialokal*, dem Onlinehandel der Buchhandlungen, oder bei Amazon* bestellbar.
Eliane Retz, Christiane Stella Bongertz: Wild Family – Konflikte bewältigen, Geschwister verbünden, familiäre Beziehungen stärken, 384 Seiten, Piper Verlag, 06/2023, 18 Euro.
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