Was tun, wenn auch im Privaten radikale gesellschaftliche Extreme aufeinanderprallen? Wie können eine konsequente Veganerin und ein ausgesprochener Fleischliebhaber friedvoll Weihnachten feiern? Ein Hoch unserer Gastautor:innen – den Paartherapeut:innen Laura und Tobias Goldfarb – auf die Grautöne und radikales Normalsein.
Liebe Goldfarbs, mein Mann isst sehr viel Fleisch, und langsam mag ich den eigenen Kühlschrank nicht mehr öffnen. Wir erzählen unseren Kindern, dass wir keine Tiere in der Stadt haben können, weil das Tierquälerei ist, und am Abend tischt mein Mann Wurstplatten auf. Ich lebe konsequent vegan und schäme mich sehr. Es ist schon so weit, dass ich Panik vor Weihnachten habe! Wie verhindere ich den Gänsebraten?
Mareile, 37*
Die Goldfarbs antworten
Liebe Mareile,
vegan und carnivor unter einem Dach, das ist der Stoff für eine Real-Crime-Serie auf Netflix. So weit wollt ihr es sicherlich nicht kommen lassen. Gehen wir davon aus, dass ihr ein Weihnachtsfest in Harmonie genießen möchtet. Die Vorweihnachtszeit ist selten besinnlich, es sollte nicht auch noch Panik vor dem Gänsebraten dazu kommen.
Alles ist politisch
Euer Dilemma ist gleichzeitig ein persönliches und ein gesellschaftliches. Kommen wir zuerst zum einfachen Teil, dem gesellschaftlichen: Du und dein Partner repräsentiert zwei Seiten einer Medaille, die erst vor kurzem geprägt wurde.
Vor einem Jahrzehnt wäret ihr mit eurem Dilemma wahre Exot:innen gewesen, inzwischen begegnet uns das Problem ständig: Fahren wir mit der Bahn in den Urlaub, oder fliegen wir? Schaffen wir das Auto ab, oder behalten wir es? Wollen wir vegetarisch, vegan oder omnivor leben? Schalten wir den Fernseher aus, wenn gegendert wird, oder wenn nicht gegendert wird?
Leider ist unsere Welt ziemlich konfus geworden: Klimawandel, Pandemie, Krieg, Energiewende, Verkehrswende, Wohnungsmangel, Flüchtlingskrise, die Realität leidet so langsam unter Realitätsverlust. Alle scheinen nur noch Extreme zu kennen: Die einen rufen „Klimakatastrophe!“, kleben sich auf die Fahrbahn, und erdolchen den Kerl am Nachbartisch mit dem Steak auf dem Teller mit ihren scharfen Blicken der Gerechtigkeit.
Die anderen schwitzen bei 40 Grad im Schatten, zucken mit den Schultern, sagen „Welche Klimakatastrophe?“, schalten die Air-Condition an, steigen in ihren SUV und fahren damit zur Fastfood-Kette, um sich für ein paar Euro einen Berg Fleisch zu kaufen, für das der halbe Urwald am Amazonas brandgerodet wurde. Und wie es aussieht, ist ein Teil dieser verworrenen gesellschaftlichen Realität in eure Beziehung, in euer Familienleben hinübergeschwappt. Wie auch nicht? Alles ist heutzutage politisch.
Attention Economy versus Normalität
Aber eure Familie, eure Beziehung, euer kleiner Kosmos ist nicht gleichzusetzen mit der Welt da draußen. Da draußen ist radikal das neue Normal. Wer normal ist, den verschluckt die Timeline. Auf Twitter interessiert eine normale Meinung niemanden. Auf Instagram juckt es niemanden, wenn man in einer normalen Wohnung wohnt, in der man normale Sachen macht. Für eine normale Oberweite gibt es keine Herzchen. Pech gehabt.
Deshalb legen sich die Leute radikale Meinungen, extreme Beschäftigungen und monströse Oberweiten zu. Dann regnet es Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit ist inzwischen die härteste Währung. Es ist die Attention Economy, die Ökonomie der Aufmerksamkeit. Wenn man dich kennt, bist du der Star. Wofür man dich kennt, ist egal. Es gibt Menschen, die können inzwischen sehr gut davon leben, dass sie bei YouTube Sachen auspacken.
Aufmerksamkeit in der Beziehung
Aber in einer Beziehung muss das nicht so sein. In eurer Familie sollte Aufmerksamkeit ein Geschenk sein, das ihr euch gegenseitig macht. Niemand sollte radikal werden müssen, um vom anderen beachtet zu werden. Gönnt euch Fifty Shades of Grey. Das soll nicht heißen, dass ihr Kochlöffel und die Springseile der Kinder mit ins Bett nehmen sollt (obwohl: wenn das in der Überwindung der ideologischen Kluft hilft, warum nicht?).
Was wir meinen isst: Gönnt euch weniger Schwarzweiß, entdeckt die Grautöne. Muss der ganze Kühlschrank voller Fleisch sein? Nein, lieber nicht. Aber ein Fach für die geliebte Wurst deines Mannes? Vielleicht ist das möglich. Muss eine Gans auf den Weihnachtstisch? Doch nicht unbedingt. Vielleicht kann dein Mann die Gans mit Freunden oder Kollegen essen, die so denken wie er, zu einer anderen Gelegenheit.
Radikal normal
Leben und leben lassen – das ist nichts für Twitter oder Instagram. Aber in einer Partnerschaft kann es sehr entspannend sein, die Radikalität woanders zu suchen: In der Normalität. Hardcore-Normcore. Radikal ausgeglichen. Crazy zuvorkommend. Fundamentalistisch unextrem. Frohe Weihnachten!
Ihr habt eine Frage, der sich die beiden Paartherapeut:innen widmen können? Dann schreibt uns an liebegoldfarbs@himbeer-verlag.com
Goldfarb & Goldfarb
Laura und Tobias bieten Paartherapie, Einzelsitzungen, Beziehungs-Check, Mediation und Teambuilding in ihren Räumen in Berlin-Prenzlauer Berg oder als Online-Sitzungen (auch auf Englisch) an. goldfarb-goldfarb.com
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