Vaterkolumne HIM – Unser Kolumnist Christoph Bauer hat sich oft gefragt, wann die musikalische Auflehnung seiner Töchter gegen die Elterngeneration endlich startet. Jetzt weiß er, sie ist schon längst da.
Die weiteste Distanz, die man in unserer Wohnung zurücklegen kann, erstreckt sich vom Zimmer meiner größeren Tochter bis in unser Badezimmer. Eine Strecke, die sie ziemlich oft und fast immer mit großem Tamtam zurücklegt bzw. schreitet, springt oder stampft. An der Art und Weise, wie sie diese wenigen Meter nimmt, lässt sich sehr genau ihr akuter geistiger und emotionaler Zustand ablesen. Die Wohnung wird so zu einer Art psychoanalytischem Catwalk. Heidi Klum und ihre grenzdebilen GNTM-Juroren haben uns ja gelehrt, dass der Gang über den Laufsteg wahnsinnig viel über die „Personality“ erzählt.
Doch bei meinem Teenager besteht diese Personality aus einer Vielzahl unterschiedlicher Erscheinungen. Ein bisschen Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Da gibt es die eher manischen Stimmungslagen mit hysterisch guter Laune oder gar kaiserlicher Hybris. Oder aber Weltuntergangsstimmungen, die allein durch das Nichtvorhandensein eines Haargummis ausgelöst werden können.
Ein Faible für Unordnung
Doch so unterschiedlich sich die seelischen Zustände auch präsentieren mögen, immer sind sie absolut und weltbeherrschend. Wehe dem, der es wagt, sich da über Banalitäten zu beschweren – wie Kleider oder Handtücher, die auf der gesamten Wegstrecke durch die Wohnung wie unnötiger Ballast fallen gelassen werden. Wer sich traut, dies kritisch zu kommentieren, wird gnadenlos als kleinkarierter Spießer abgeurteilt.
Eine Ungerechtigkeit sondergleichen. Denn auch, wenn mich das Kleiderchaos meiner Töchter in den familiären Gemeinschaftsflächen gewaltig nervt, so hatte ich doch schon immer ein Faible für geistige Unordnung. Menschen, die mit einer guten Portion Chaos im Kopf und den entsprechenden Verhaltensauffälligkeiten ausgestattet sind, fand ich schon immer inspirierender als solche, von denen man keine großen Überraschungen zu erwarten hat. Und so kann ich auch der Pubertät meiner Tochter einiges abgewinnen – eine sowohl für das jugendliche Kind, wie auch für die anwesenden Erwachsenen über die Maßen unterhaltsame Zeit.
Was nicht heißen soll, dass ich den ganzen Wahnsinn, der einem da entgegen schlägt, stets mit tiefenentspannter Lässigkeit genießen würde. Ich ertappe mich regelmäßig dabei, mit großem Getöse aus der Haut zu fahren, obwohl ich es ja eigentlich besser weiß und mir schon unzählige Male bewiesen habe, dass Eskalation bestenfalls für einen kurzzeitigen Druckausgleich sorgt, aber eigentlich nie für einen wertvollen Erkenntnisgewinn. Doch neben den Momenten der kinskiesquen Überdrehtheit, häufen sich bei der Großen auch solche der stillen Selbstreflektion.
Bei einer Autofahrt in der letzten Woche zum Beispiel unterbrach unsere Musikdiktatorin für einen kurzen Augenblick das Programm um folgende Ansage zu machen: „Ich glaube, ich entwickle gerade so etwas wie einen eigenen Musikgeschmack.“ Hurra. Ob sich dies aber nun positiv oder negativ auf unser weiteres Zusammenleben auswirken wird, lässt sich nach heutigem Kenntnisstand noch nicht eindeutig voraussagen. Doch erst mal hat mich diese Aussage ziemlich angerührt.
Der Aufstand im Mainstreamgewand
Denn auf dem Weg zur musikalischen Geschmacksfindung haben wir die letzten Jahre das finstere Tal des Mainstreams durchschreiten müssen. Immer wieder sind wir dabei ausgerutscht auf dem digital sterilisierten Musikschleim der Kommerz-Radiosender, wurden von Bibis und Tinas mit Schüttelreimen und billigen Plastikbeats attackiert, von schielenden Ed Sheerans verschreckt oder von ferngesteuerten Shawn Mendes in Zustände geistiger Umnachtung balladiert.
Ich habe mich oft gefragt, wann meine Mädels wohl endlich in die musikalischen Schubladen greifen werden, in denen die Munition für den Aufstand gegen die Elterngeneration liegt. Inzwischen ist mir klar, sie haben es längst getan. Punk, Metall, Rock ’n’ Roll haben diesbezüglich ausgedient. Mit nichts kann man sich heute besser von der tätowierten, gepiercten und durchgefeierten Welt der Erziehungsberechtigten abgrenzen, als mit aseptischem, rostfreiem Mainstreampop. Provokation durch das demonstrative Unterlassen von Provokation – das gehorcht ja schon fast den Regeln des gewaltfreien Widerstands.
Aber, um es mit Richard Wagner zu sagen, „Musik ist die Sprache der Leidenschaft“ und kaum eine Lebensphase bietet soviel Abwechslung in Sachen Leidenschaft wie die Pubertät. So bin ich entsprechend gespannt, welche Soundtracks mich auf dem Weg der Stilfindung noch so erwarten – und der führt natürlich über den Catwalk ins Bad.
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