Ali Mitgutsch bewegt und belebt mit seinen Wimmelbüchern seit knapp 50 Jahren die Welt. Im August 2015 hat er seinen 80. Geburtstag gefeiert. Grund genug für HIMBEER-Autor Sebastian Schulke, dem Erfinder der Wimmelbücher einen Besuch abzustatten ...
Drei Brezn, eine große Wurst, Orangen und Birnen liegen im Schnee. Sie sind aus der Handtasche einer Dame gefallen, die ausgerutscht ist und ebenfalls im Schnee liegt. Ein Junge auf Skiern kann gerade noch bremsen. Rundherum sausen Kinder auf ihren Schlitten vorbei, bewerfen sich mit Schneebällen oder bauen einen Schneemann – mit einem roten Topf auf dem Kopf.
Und die Erwachsenen, also die Mamas und Papas, Onkel und Tanten, Omas und Opas schauen, staunen und lachen. Ab und zu fahren sie sogar mit und verlieren während der Fahrt gleich mal Hut und Brille.
Ein wunderbares Szenario auf dem Rodelhügel einer Stadt. Einer Stadt, die Ali Mitgutsch erschaffen hat – farbenfroh, fröhlich und frech. Auch nach 80 Jahren. Im August feierte der Kinderbuchautor seinen 80. Geburtstag. Grund genug, mal etwas genauer in die bunten Mitgutsch-Welten zu schauen.
Wie Ali Mitgutsch zum ersten Wimmelbuch kam
Die beschriebene Szene stammt aus dem ersten Wimmelbuch von Ali Mitgutsch: „Rundherum in meiner Stadt“* von 1968. Auf dem Rückumschlag erklärt Kurt Seelmann, wie man dieses Bilderbuch ohne Worte lesen und verstehen kann – eine kurze Gebrauchsanleitung. Denn diese Art Kinderbuch war völlig neu und sorgte anfangs bei Lehrer:innen, Buchhändler:innen und Erzieher:innen für Kopfschütteln.
„Sie meinten, dass meine Wimmelbilder die Kinder überfluten würden. Die könnten die vielen Ereignisse und Personen nicht verarbeiten“, sagt Mitgutsch und betont: „Aber fast alle Kinder haben einen gesunden Schutzmechanismus, sie sehen und folgen nur dem, was sie im Augenblick interessiert. Gleichzeitig suchen sie ständig nach einer neuen Perspektive. Schließlich will die Welt entdeckt werden. Und die Welt ist groß.“ Und bunt – besonders in den Büchern von Mitgutsch, die auch nach knapp 50 Jahren nichts von ihrem Reiz und Charme verloren haben.
Angefangen hatte alles mit „Pepes Hut“ – das erste Kinderbuch von Ali Mitgutsch, das 1960 für den Deutschen Jugendbuchpreis nominiert wurde. Genauso wie „Ulus abenteuerliche Reise zum Nordlicht“ und „Nico findet einen Schatz“ in den Folgejahren.
„Nach meiner Ausbildung zum Grafiker kam Ende der 1950er-Jahre die Ehefrau eines meiner Auftraggeber auf mich zu. Sie arbeitete in einem Kinderbuchverlag, erkannte wohl meine Begabung“, erzählt Mitgutsch, „und fragte mich, ob ich mir nicht vorstellen könnte, ein Kinderbuch zu illustrieren. Das hat mich gleich begeistert. So kam alles ins Rollen.“
Auch Kurt Seelmann war begeistert – von der Art, wie Ali Mitgutsch zeichnete und malte. Der Direktor des Stadtjugendamts in München, der für seine recht progressiven pädagogischen Ansätze bekannt war, bat ihn, ein Bild zu malen, auf „dem ganz viel drauf“ ist. So entstand „Rundherum in meiner Stadt“.
Das erste Wimmelbuch gewann trotz der erwähnten Kritik und Bedenken vieler Experten 1969 den Jugendbuchpreis und bescherte Mitgutsch den großen Durchbruch. Seine Wimmelbücher aus Papier und Farbe strotzen vor Energie, Lebensfreude und der Lust, niemals damit aufhören zu wollen, ein Kind zu sein, dabei Streiche auszuhecken und wild herumzutoben.
Seine Wimmelbücher sind zeitlos
Kein Wunder, dass die Bücher von Mitgutsch die digitale Revolution in Gestalt klingelnder Handys, Smartphones und flimmernder Videochannels überlebt haben. Sie sind fortwährend bei Kindern in der ganzen Welt beliebt – auch in Ländern wie China und Korea und ganz neu jetzt auch in der Mongolei. Über 6,5 Millionen Wimmelbücher haben sich bis heute verkauft.
Ali Mitgutsch hat es sich in seinem Atelier in seiner Wohnung in München gemütlich gemacht, trinkt einen Tee. Wenn man durch den langen Flur geht, vorbei an Küche, Badezimmer und Gästezimmer, hängen an der Wand Kästen, die wie Wimmelbücher in 3D aussehen.
„Durch die Wallfahrten, die wir Kinder mit unserer Mutter unternehmen mussten, lernte ich Dioramen kennen und lieben“, erzählt Mitgusch. Bei Einwurf einer Münze habe sich in den Schaukästen alles in Bewegung gesetzt. Licht sei angegangen und das Jesuskind in der Krippe vorgefahren, um den Betrachter zu segnen. „Meine Traumkästchen für Erwachsene habe ich zu kleinen Bühnen von Dingen erhoben, die bereits ein Leben hinter sich haben: Werkzeuge, Briefe, Stoffe, Figuren und andere Fundstücke“, erklärt er. „Sie sollen beim Betrachter die eigene Fantasie wecken.“
Fantasie spielte immer eine wichtige Rolle in Ali Mitgutschs Leben
Fantasie half Ali Mitgutsch in seiner Kindheit. Nicht nur während der schrecklichen Kriegsjahre, die sein ältester Bruder nicht überlebte. Er war Soldat, starb an der Front. Der kleine Ali und seine drei weiteren Geschwister mussten das von Bombenangriffen geplagte München verlassen und kamen in ein sicheres Dorf im Allgäu. Dort wurde der kleine, schmächtige Junge aus München von seinen Mitschülern unentwegt gehänselt, er war „der Träumer“. Doch seine Träume halfen ihm. In denen war er nicht allein, hatte Freunde, die zu ihm standen.
Auch später, als er mit seiner Familie nach Kriegsende wieder nach München zurückkehrte. „Meine Fantasie hat mir mein Leben gerettet. Durch sie kannte meine Welt scheinbar keine Grenzen. Not und Gewalt, Verzweiflung und Einsamkeit – meine Fantasie hatte auf alles eine Antwort“, erzählt Mitgutsch. „Wir Kinder waren die meiste Zeit uns selbst überlassen. Denn die Eltern waren damit beschäftigt, das Überleben zu sichern.“
In seinem Buch „Herzanzünder – Mein Leben als Kind“* beschreibt er diese Zeit sehr genau. „Verglichen mit meiner Zwangsunterbringung im Allgäu muss ich sagen, war die Maxvorstadt für mich als Kind das wahre Paradies.“
Mit seinen 80 Jahren wohnt er immer noch in der Maxvorstadt. In einer Wohnung im Dachgeschoss mit Balkon. Da sitzt er dann und schaut hinunter auf das Gewimmel in den Straßen von München. So wie jetzt. Ein wunderbares Szenario – voller Abenteuer, Träume und Fantasie.
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