Drei Berliner Großstadtfamilien, drei Modelle – alle eint der Wunsch, ihre Kinder nicht nur eingeengt und in Betongrau aufwachsen zu sehen. Die Stadt aber für ein Landleben ganz hinter sich zu lassen, kam für sie nicht in Frage. Wir haben sie besucht und geschaut, wie sie diesen Widerspruch für sich gelöst haben.
Gestehen wir es uns ein, irgendwann treibt sie jeden, der in Berlin wohnt, einmal um: die Sehnsucht nach einer ländlichen Idylle. Oder sagen wir besser „vermeintliche Idylle“? Denn wir wissen aus eigener Erfahrung oder Erzählungen Zugezogener sehr wohl um die Nachteile, die ein Landleben abseits des urbanen Raumes mit sich bringen kann: Lange Wege müssen in Kauf genommen werden. Wer außerhalb wohnt, verbringt viel Zeit mit Pendeln. Darüber hinaus erfordert ein eigener Garten viel Arbeit.
In der eingeschränkten Infrastruktur im ländlichen Raum ist das abgespeckte kulturelle Angebot inbegriffen. Der komfortable Sushi-Lieferservice oder der günstige Inder um die Ecke fehlen. Dennoch: Der Reiz, den die Natur auf uns ausübt, bleibt. Insbesondere, sobald eigene Kinder durchs Leben toben, wird er meist stärker. Wir sehnen uns doch manchmal nach einer „heilen Welt“, in der unsere Kinder behütet aufwachsen sollen. Ist vielleicht beides unter einen Hut zu bekommen? Wir haben drei Familien besucht, die tatsächlich den Spagat zwischen Urban Lifestyle und grüner Idylle leben.
Modell eins: Stadtkinder mit Landsitz
Landleben und Stadtleben im Wechsel: An einem Abend im Hochsommer sitzt Jeffrey (45) mit seiner Tochter Coco (7) vor dem großen Stall ihres Eichenhofes auf dem Land.
Die beiden haben den Tag draußen verbracht. Sie waren gemeinsam reiten und haben Marmelade gekocht. Es ist außergewöhnlich heiß in diesem Sommer. Die Schaukel im Baum reglos, kein Lüftchen. „Da ist er!“, unterbricht Coco die Stille. Der Mond geht auf, Vater und Tochter schauen staunend durch das Teleskop.
Eigentlich leben Jeffrey und Coco mit Mama Edna (43) in Berlin. Die drei haben eine sanierte Altbauwohnung in der Nähe vom Kollwitzplatz gemietet. Mitten in Prenzlauer Berg führt Jeffrey mit seinem Geschäftspartner den Frisörladen Schnittstelle. Der liegt nur 200 Meter von der Wohnung entfernt. Kurze Wege sind praktisch. Zudem empfindet die Familie den kinderfreundlichen Kiez als entspannt.
Landleben und Stadtleben im Kompromiss
Insbesondere Edna zog es nie raus aus der Stadt. Ein Austauschjahr in einer US-amerikanischen Kleinstadt hatte der gebürtigen Steglitzerin gereicht: „Das öde Landleben und die viele Arbeit … dazu fehlende Infrastruktur, das wollte ich nicht nochmal!“
Jeffrey wollte dagegen raus: „Als Coco ein Jahr alt war, wollte ich etwas Grünes für die Kleine und mich, so halb halb.“ Als er seinem besten Freund von den Plänen erzählte, entschieden sie, sich gemeinsam nach einer Immobilie umzuschauen: „So teilen wir Kosten und Arbeit ohne die Verpflichtung, jedes Wochenende rausfahren zu müssen!“
Sie hatten bereits ein Jahr nach dem passenden Objekt gesucht, als ihnen eine Kundin vom Landhaus mit 200 Quadratmetern Nutzfläche unweit der polnischen Grenze erzählte. „Kauf das, aber ich bleibe hier!“, sagte Edna zu ihrem Mann.
Jeffrey und sein Freund schlugen zu. Sie kauften den Eichenhof und renovierten den Innenbereich. Fenster, Dach und Fassade waren bereits saniert. Heute hat jeder der beiden Eigentümer ein jeweils eigenes Schlafzimmer und Kinderzimmer. Wohnzimmer und Küche nutzen sie gemeinsam.
Raum für Ideen im Landhaus
Die Räume sind im Landhausstil eingerichtet, um einen Kontrast zur modern eingerichteten Wohnung in Berlin zu schaffen. Antike Möbel passen zur Bauzeit um 1885. Im weiß gekachelten Bad findet man französische Metrofliesen. Die Wasserhähne mit Keramikgriffen haben sie extra aus Großbritannien importieren lassen.
In Berlin lagert Jeffreys Weinvorrat in der Gästetoilette. Doch auf dem Land hat er sich einen Weinkeller im alten Gewölbe eingerichtet. Sie bauten eine Sauna und einen eigenen Kamin, letztes Jahr haben sie Weihnachten und Silvester hier verbracht, Jeffrey, Edna und Coco.
„Wegfliegen ist mir viel zu stressig geworden“, sagt heute auch Edna, die zunehmend die Ruhe genießt, die sie auf dem Land findet. Komplett rausziehen kommt für die Familie jedoch nach wie vor nicht in Frage. „Ich mache das zu fünfzig Prozent für meine Tochter, mindestens“, sagt Jeffrey. Denn er sieht Coco unter der Woche verhältnismäßig wenig: „Doch dann kommt der nächste Freitag, da packe ich das Auto, hole Coco früher vom Hort ab und wir fahren raus zum Eichenhof!“
Modell zwei: Gemeinsam eine Oase schaffen
Doch lässt sich ein Landleben auch in der Großstadt verwirklichen? Wir besuchen Karsten (47) mit seiner Frau Eva (42) und den gemeinsamen Töchtern Anna (12) und Lea (8), die auf dem ehemaligen Gelände des Kreuzberger Urbankrankenhauses mitten in Berlin wohnen.
Die Nachbarn sitzen auf ihren kleinen Terrassen, bei Rotwein über Notebooks gebeugt. Im Dunklen gewähren meterhohe Altbaufenster Einblick in ihren modern sanierten Lebensraum. Die historischen Klinkerfassade wird indirekt beleuchtet. Trotz des Verkehrs, der in der angrenzenden Urbanstraße unterschwellig vorbeirauscht, hört man das Klicken eines Rasensprengers. Vor, zurück. Beruhigend monoton wässert er die Beete – ein Idyll mitten in der Stadt.
Aktuell leben auf dem 27.000 Quadratmeter großen Gelände 400 Einwohner, darunter etwa 150 Kinder. Der freizugängliche Privatbesitz ist unter ihnen in 16 Häuser zu durchschnittlich acht Parteien aufgeteilt. Der Gemeinbesitz fängt drei Meter vor der Haustür an, es besteht ein Grund-Agreement, dass es keine Zäune gibt.
Eine neue Art von Dorfgemeinschaft
Karsten und Eva haben sich mit ihren 155 Quadratmetern Wohneigentum ohne Jägerzaun bewusst von ihrer alten Heimat losgesagt. Sie wollen sich vom kleinbürgerlichen Vorstadtleben der 80er-Jahre in Westdeutschland befreien.
„Im dörflichen Kontext meiner Kindheit fühlte ich mich nie wirklich wohl“, sagt Eva, die 2010 zu Karsten nach Berlin kam. Hochschwanger mit Anna zog sie damals in seine Wohnung im Gräfekiez, unweit der heutigen Wohnung.
Diese wurde schnell zu klein und sie stolperten über einen Aushang im Kiez: Ein paar Visionäre suchten Gleichgesinnte für eine Bietergemeinschaft. Diese hoffte, das alte Krankenhausgelände kaufen zu können. Karsten, der sich bereits in mehreren Kiez-Projekten wie „Rettet die Bäume am Landwehrkanal“ engagiert hatte, war unvoreingenommen wie risikobereit. So stieg er mit 500 Euro ein.
Die Wagnis, sich an einem alternativen Bauprojekt zu beteiligen
„Wir kauften die Katze im Sack“, sagt Eva heute und schüttelt den Kopf. Vielleicht über die eigene Courage, vielleicht auch über ihre Naivität. Wirtschaftlich betrachtet war es eine durchaus lohnenswerte Entscheidung. Allein in den ersten zehn Jahren hat sich die Immobilie im Wert deutlich gesteigert.
Aber darum ging es den Mitgliedern der Baugruppe überhaupt nicht: „Für uns war es einfach ein tolles Bauprojekt, getrieben vom Wunsch, in einer offenen, toleranten Community im Grünen zu leben!“
Eine offene, tolerante Gemeinschaft im Grünen
Heute hat die Familie kurze Wege. Arbeit und Schule sind direkt um die Ecke, jegliches Kulturangebot Berlins schnell erreichbar. Wenn Karsten Weitblick braucht, entspannt er auf dem Tempelhofer Feld. Und der Landwehrkanal macht Spaziergänge am Wasser möglich. Raus nach Brandenburg oder an die Ostsee fährt die Familie fünf Mal im Jahr, wenn’s hochkommt.
„Unsere Kinder haben hier ein autofreies Gelände. Sie können sich eigenständig bewegen, ohne dass wir Sorge haben müssen, dass sie von Fixern angesprochen werden“, erzählt Karsten. „Es ist fast wie die Freiheit, die wir selbst aus unserer Kindheit vom Dorf kennen!“
Den Luxus der relativen Unabhängigkeit hat sich das Paar hart erkämpft. Von den ersten Treffen vergingen 18 Monate bis 55 Familien als Bietergruppe den Zuschlag für das Gelände bekamen. Vom Kauf bis zum Einzug verstrichen weitere drei Jahre.
Ein Auf und Ab der Gefühle
„Es war eine große Zitterpartie, uns begleitete immer das Gefühl der Unsicherheit“, erinnert sich Eva. Die Modernisierungskosten überstiegen jegliche Kalkulation. „Wir hatten viele Krisensitzungen, haben Höhen und Tiefen durchgestanden“, erzählt Karsten.
Wer hier wohnt, muss bereit sein, Kompromisse einzugehen und seine Privatsphäre einzuschränken. Gelegentlich müssen auch die Bedürfnisse der Einzelnen hinter das Allgemeinwohl gestellt werden. „Wir leben ein bisschen wie auf dem Campingplatz“, meint das Paar. „Wenn die Schwiegermutter der Nachbarin eine kaputte Hüfte hat, dann weiß es eben jeder.“
Modell drei: Hinterhöfe für mehr Landleben im Kiez
Jekaterina (39) und Rolf (40) haben ein ähnliches Wohnmodell in der Greifswalder Straße gefunden. Sie leben mit ihren Kindern Jonte (8), Piet (6) und Remy (1) in einer denkmalgeschützten Remise im Hinterhof.
Sobald man das sanierte Vorderhaus passiert, lässt der Straßenlärm deutlich nach. Im begrünten Innenhof werden Wein, Tomaten, Karotten und Erdbeeren angepflanzt. Ein paar Jungs vom Kita- bis Grundschulalter passen ihren Fußball zwischen einer Feige und dem Plattpfirsichbaum. Der trägt in diesem Sommer Früchte wie noch nie.
Gemeinsam leben in einer urbanen Remise
14 Wohneinheiten teilen sich den 500 Quadratmeter großen Hof, in den vergangen Monaten kam eine weitere Generation nach: „Nochmal fünf Babys!“, erzählt Jekaterina. „Wir lassen die Türen offen und die Kinder bewegen sich frei.“
Auch wenn sie damals eine Ruine war, die alte Remise überzeugte das Paar sofort.
Jekaterina kam mit 15 Jahren aus Russland nach Westdeutschland in den hessischen Odenwald. Das pulsierende Leben der Großstadt suchend, zog sie dann nach dem BWL-Studium 2005 nach Berlin. In einer Online-Agentur lernte sie den gebürtigen Bochumer Rolf kennen, der in Prenzlauer Berg wohnte. „Unser ganzes soziales Umfeld lebte hier und so sind wir hier hängengeblieben!“
Eigentum statt Mietenwahnsinn
Um der Mietpreisexplosion zu entkommen, schauten sich die beiden bereits 2008 nach Eigentum um. „Wir hatten zwar keinerlei Mittel, aber die Mieten waren seinerzeit schon enorm“, erzählt Jekaterina heute. „So haben wir damals diese Ruine gefunden, sie hat uns fasziniert mit dem ehemaligen Gewerbehof.“ „Wir hatten null Plan“, bekräftigt Rolf, „aber von der alten Remise waren wir sofort überzeugt.“
Damals war das Vorderhaus noch unsaniert, der Hof voller Müll und Matsch. Die Remise war theoretisch bewohnbar, jedoch fehlte eine Treppe. Ihre Freunde waren abgeschreckt. Bei der Schlüsselübergabe stellte ein Baugutachter Hunderte Mängel fest. Darunter waren auch Parasiten und Schimmel.
„Eines Tages meldete der Bauträger auch noch Insolvenz an“, erinnert sich Rolf mit Blick auf alte Fotos. Plötzlich saßen sie mit 14 Einheiten unfreiwillig in einem Boot. Alle hatten gekauft, es gab kein Zurück.
Heute kann man sich das kaum mehr vorstellen, wenn man bei Sonnenschein im Hof sitzt. Plötzlich setzt Baulärm ein. Auf dem direkt angrenzenden Nachbargrundstück, wo jüngst noch ein Birkenwäldchen wucherte, werden nun Townhouses errichtet.
„Da war ein kleiner Dschungel, unsere Katze ging dort immer streunen“, erzählt Jekaterina. „Aus den Fenstern der angrenzenden Proberäume drang Musik, jetzt sind sie zugemauert.“
Der Hof ist umringt von pastellfarbenen Fassaden, gläsernen Fahrstühlen und eisernen Balkonen. Auch in ihrem Hinterhofidyll kann die Familie der fortschreitenden Gentrifizierung nicht entkommen. Ob sie auch manchmal den Mond und die Sterne beobachten?
„Ich würde gerne ein Teleskop für die Kinder kaufen“, sagt Rolf, „aber durch die Lichtverschmutzung kannst du hier leider kaum etwas sehen.“ Doch sie würden sich immer wieder für ihr Remisen-Stadtleben entscheiden.