Viel hat sich in Berlin getan, seit Anja vor vierzehn Jahren zum Studium in die Stadt kam. Neue Orte sind entstanden, alte verschwunden. Hier sind ihre vier Kinder geboren und sie fragt sich, welche Orte ihren Kindern einst selbstverständlich erscheinen werden, die jetzt gerade erst im Entstehen sind.
Das Leben ist eine Baustelle
Im Februar 1997 lief bei der Berlinale ein Film, der mich nicht nur wegen des Hauptdarstellers Jürgen Vogel begeisterte, für den ich damals schwärmte, sondern auch weil er ein Bild von Berlin zeichnet, das sich mit meinem deckte. Unfertig, vielfältig und voller überraschender Begegnungen. Genau ein Jahr später zog ich selbst nach Berlin und traf hier kurz danach den Mann, mit dem ich seitdem das Leben mit all seinen Baustellen teile. Viel ist passiert in dieser Zeit – aus zwei wurde sechs, heute sind wir stolze Eltern von Carla (12), Gregor (11), Rosa (7) und Victor (2).
Und die Friedrichstraße ist schon lange nicht mehr die Holperpiste voller Schlaglöcher und Sandgruben, die sie vor vierzehn Jahren war, als ich von meinem Kreuzberger Domizil zu Uni und Nebenjob radelte. Der Potsdamer Platz war damals gerade erst im Entstehen, ebenso wie Bundeskanzleramt und Hauptbahnhof – alles Orte, die unseren Kindern so erscheinen, als seien sie schon immer da gewesen.
Eine Stadt der Kräne ist Berlin aber immer noch und ihre Wandelbarkeit macht einen gehörigen Teil ihres Reizes aus. Leben ist Veränderung, in Berlin vielleicht ein wenig mehr als anderswo. Seit einem Jahrzehnt wohnen wir inzwischen im ehemaligen Ostteil, erleben hautnah dessen Veränderungen und haben etliche Gentrifizierungsdiskussionen geführt.
Dass es vor dem Mauerfall fernab unserer Vorstellungskraft lag, dass wir eines Tages in Ostberlin leben würden, können wir unseren Kindern kaum begreifbar machen. Zweiter Weltkrieg, vierzig Jahre deutsche Teilung und DDR-Geschichte haben aber nicht nur Mauerreste als Spuren hinterlassen, es gibt wohl keine andere Metropole, die solche Brachen in besten Innenstadtlagen und ein derart zerrissenes Stadtbild aufzuweisen hat.
Was wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten tun? Welche neuen Orte entstehen, die den Kindern unserer Kinder selbstverständlich erscheinen werden? Wird das Humboldt-Forum tatsächlich stehen? Die historische Mitte rekonstruiert sein? Der Mauerpark zu Recht den Namen Park tragen? Die Internationale Bauaustellung 2020 das Tempelhofer Feld bespielt haben? Am Hauptbahnhof ein neues Stadtviertel entstanden sein? Mit unseren Kindern gehen wir auf Entdeckungstour, ihnen die Entwicklungsflächen ihrer Geburtsstadt zu zeigen.
Mauergedenkstätte
Unser erster Weg führt zur Mauergedenkstätte in die Bernauer Straße. Der ehemalige Grenzstreifen, ein 1,4 Kilometer langes und ca. 4,4 Hektar großes Gelände wird zu einem Gedenkareal umgestaltet. Der zweite Teil der Außenaustellung wurde pünktlich zum 50. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 2011 eröffnet, der letzte Teil, „Bereich D: Es geschah an der Mauer“ genannt, soll bis 2013 fertiggestellt sein. Wir kommen von der Brunnenstraße und hier erscheint die Bernauer den Kindern auf den ersten Blick als ganz normale Straße, nur dass auf der einen Seite auf einem breiten Grasstreifen viele rostige Stangen stehen, die den Mauerverlauf symbolisieren.
Wo früher West, wo Ost war, können sie erstmal nicht erkennen. Gut, dass hier an der Ecke zur Brunnenstraße ein Modell steht, das Erläutern hilft. An einer Brandmauer prangt überlebensgroß das berühmt gewordenen Bild des Grenzsoldaten Conrad Schumann, der bereits kurz nach Beginn der Absperrungen mit einem mutigen Sprung flüchtete, und weckt das Interesse der Kinder. Die es ein paar Meter weiter gar nicht fassen können, dass für den Mauerbau ein ganzer Strassenzug mitsamt Kirche abgerissen wurden. Von der Trennung von Familien und Freunden ganz zu schweigen. Besonders eindrucksvoll sind für die Mädchen die Grundmauern des abgerissenen Hauses Bernauer Straße Nr. 10.
Behutsam wischt Rosa den Kies von den Plaketten, die am Boden die ehemaligen Räume kennzeichnen. Die Texttafeln überfordern die Siebenjährige inhaltlich teilweise, aber den O-Tönen der ehemaligen Grenzstreifenbewohner lauscht sie gespannt.
Carla mit ihren zwölf Jahren erfasst das Unrecht, das hier geschehen ist und empört sich. Etwas versöhnt ist sie mit der Geschichte der Bernauer Straße erst, als wir ihr erzählen, dass hier die Maueröffnung ihren Anfang nahm und einige der ersten Segmente aus der Mauer gebrochen wurden.
Auch die Kapelle der Versöhnung mit ihrer besonderen Lichtstimmung berührt die Kinder, die ganz still werden, bis sie die Fliegerbombe entdecken, die unter einem Gitter zu sehen ist. Die Schneisen, die der Krieg ins Berliner Stadtbild gerissen haben, kennen sie, seitdem sie auf dem Flohmarkt alte Postkarten vom ehemals prachtvollen Alexanderplatz entdeckt haben, aber eine Bombe „in echt“ an ihrem Abwurfort zu sehen ist dann doch noch mal etwas anderes.
Park am Gleisdreieck
Der neue Park am Gleisdreieck ist unser nächstes Ziel. Eine riesige Stadtbrache, vierzig Jahre für die Öffentlichkeit unzugänglich an der innerstädtischen Grenze gelegen und später jahrelang als Logistikfläche für die Bauarbeiten am Potsdamer Platz genutzt, birgt das Areal des ehemaligen Anhalter- und Potsdamer Güterbahnhofs ein enormes Entwicklungspotential. Hier zwischen Landwehrkanal und Yorckstrasse entsteht ein großer zentraler Bürgerpark, der durch ICE-Trassen getrennt aus zwei Teilen besteht. Der Ostpark wurde bereits im September 2011 eröffnet, der Westpark soll 2013 fertiggestellt werden.
Bevor wir aber den Park entdecken können, müssen wir unbedingt ins Technikmuseum, das hatte sich Rosa schon lange gewünscht. Diesmal ist auch Gregor mit von der Partie, der von den dreien das Museum am besten kennt und doch noch längst nicht alles. Und so verbringen wir etliche Stunden zwischen alten Lokomotiven, Druckerei, Schiffen, Flugzeugen und Kriegsgeschichte, fasziniert vom menschlichen Ideenreichtum, technischen Möglichkeiten und abgestossen von den Abgründen, die sich bisweilen bei ihrer Nutzung auftun.
Jedenfalls ist es beschlossene Sache, dass wir bald wiederkommen, auch wenn das benachbarte Science Center Spectrum nun modernisiert und voraussichtlich bis Ende 2012 geschlossen bleiben wird. Nach der Wiedereröffnung soll es mit vielen neuen Experimentierstationen und speziell für jüngere Kinder geeigneten Angeboten aufwarten, dann ist auch unser Jüngster museumsbesuchstauglich …
Die ehemalige Ladestraße des Güterbahnhofs, die wir nehmen, um zum Park zu gelangen, ist wesentlicher Bestandteil der Planungen zur thematischen wie baulichen Erweiterung des Technikmuseums zum zukünftigen Technoversum. Das neue Museumsquartier soll sich stärker zukunfts- als geschichts-, mehr themen- statt sammlungsorientiert den verschiedensten Aspekten der Technik-Kulturgeschichte widmen. Das Konzept sieht sechs Foren vor, die Beziehungen zwischen Mensch und Technik thematisieren. Es wird spannend sein, zu beobachten, wie diese Vorhaben umgesetzt und was die ehemaligen Versandschuppen, an denen wir nun entlang schlendern, dann beherbergen werden.
Als wir den Park betreten, ist der erste Eindruck der einer unerwarteten Weite – es war uns vorher nicht so klar, wie riesig das Gelände tatsächlich ist und dass es auf einer Art Plateau fast vier Meter höher als die Umgebung liegt und so eine tolle Sicht auf die Stadt erlaubt.
Vierzehn Jahre zuvor ganz in der Nähe wohnend hätte ich mich über diese grüne Oase sehr gefreut. Nun bietet sie den Anwohnern und allen anderen Besuchern neben großen Wiesenflächen, neu gestalteten Spielplätzen und Sportflächen einen Interkulturellen Rosenduftgarten und für Rosa, Gregor und Carla besonders verlockend einen Kinder-Naturerfahrungsraum, der unter anderem über eine Hügellandschaft verfügt, deren Mulden im Sommer zum hemmungslosen Plantschen und Matschen mit Wasser befüllt werden.
Stadtwandel in Mitte: Ausblick auf das Humboldtforum im Berliner Schloss
Eines der aktuell größten und nicht unumstrittenen Bauvorhaben ist der Wiederaufbau des Stadtschlosses zum Humboldt-Forum. Den Abriss oder wie es euphemistisch genannt wurde „Rückbau“ des Palastes der Republik erinnert selbst Carla als Älteste nicht mehr so richtig, aber irgendwie fragen wir uns immer noch, ob es nicht ziemlich geschichtsklitternd ist, eines der geschichtsträchtigsten DDR-Bauwerke in der Versenkung verschwinden zu lassen und stattdessen die Schlüterschen Barock-Schlossfassaden als Aussenhülle eines zukünftigen Humboldt-Forums zu rekonstruieren.
Aber unabhängig davon, ob man historisierenden Rekonstruktionen etwas abgewinnen kann oder lieber mutige, moderne Museumsarchitektur dort gesehen hätte, lohnt der Besuch der Humboldt-Box, um etwas über die zukünftigen Nutzungen des Forums zu erfahren. Diesmal haben wir auch Rosas beste Freundin Pauline dabei und die beiden verstehen vielleicht nicht auf Anhieb, worum es in dieser komischen Box geht, sind aber hellauf begeistert von den verschiedenen interaktiven Angeboten und vor allem von der grandiosen Aussicht der beiden Panoramaterrassen.
Sollte der zeitliche Bauplan tatsächlich eingehalten werden, nachdem der Haushaltsausschuss des Bundestages im Juli 2011 die Gelder freigegeben hat, könnte der Grundstein im kommenden Jahr gelegt werden und die Eröffnung irgendwann 2019 gefeiert werden. So lange soll auch die Humboldt-Box stehen, die sich schon jetzt zu einem ziemlichen Touristenmagneten entwickelt hat, und Ausblick auf die Bauarbeiten gewähren.
In wechselnden Ausstellungen präsentieren die Stiftung Berliner Schloss – Humboldtforum als Bauherrin alles rund um das Bauvorhaben und die zukünftigen Nutzer Exemplarisches aus ihren Sammlungen. Das derzeit noch in Dahlem untergebrachte Ethnologische Museum wird Berlins Mitte sicher ebenso wie das Museum für Asiatische Kunst bereichern und die Sammlungen der Humboldt-Universität harren schon lange einer adäquaten Ausstellungsfläche. Ihre Ausstellungen im zweiten und dritten Stock der Box lassen erkennen, dass auf moderne Museumsdidaktik Wert gelegt wird.
Auch die Zentral- und Landesbibliothek, die sie um ein ausgewähltes Bücher- und Medienangebot ergänzt, hat ihren Bereich mit vielen Sitzsäcken, Kisten zum Stöbern voller Kinder- und Jugendbücher mit Geschichten aus aller Welt, schöner Wandbemalung und einer Wand mit eingebauter Liegefläche zu einem Bespiel attraktiver Bibliotheksgestaltung gemacht. Gemütlich auf den „Knautschis“ sitzend, mit reichlich spannendem Lesefutter versorgt und gelegentlich einen Blick auf die gegenüberliegende Museumsinsel werfend, sind die Mädchen hier rundum happy und kaum noch fortzubewegen.
Einziger Wermutstropfen ist das Gefühl der ständigen Beobachtung – eine Mitarbeiterin verfolgt mit Argusaugen und sichtlich schlechter Laune jede Bewegung der Kinder. Aber vielleicht hatte sie auch nur einen schlechten Tag. Wir jedenfalls hatten einen schönen Tag, haben uns noch auf den Aussichtsterassen den Wind um die Nase wehen lassen und sind dann weiter durch Berlins Mitte geradelt – an unzähligen weiteren kleinen und großen Baustellen vorbei …
Den eingangs erwähnten Film gibt es als DVD:
Das Leben ist eine Baustelle, FSK ab 12 Jahre, 2 DVD (Film + Soundtrack), ca. 90 Min., Warner Home Video, 12/2009
Wer sich ausführlich und kindgerecht über die Stadtgeschichte informieren möchte, dem seien die Ausstellungen und das Familienprogramm im Märkischen Museum empfohlen.Viele weitere Bauvorhaben und Konzepte lassen sich auf der Internetseite der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt unter stadtentwicklung.berlin.de nachlesen. Über die Projekte der landeseigenen Grün Berlin GmbH wie den Berliner Mauerweg, den Grünzug Südpanke oder die Mauerpark-Erweiterung (hierzu ist auch interessant die Seite der neugegründeten Mauerpark Stiftung Welt-Bürger-Park: welt-buerger-park.de) informiert umfangreich gruen-berlin.de.