Diese Fragestellung begegnet unseren Gastautor:innen, den Paartherapeut:innen Laura und Tobias Goldfarb, häufiger in ihren Sitzungen. In dieser Kolumne geht es darum, was Mental Load und Sisyphos miteinander zu tun haben und warum Steinerollen eine Gemeinschaftsaufgabe sein sollte.
Liebe Goldfarbs,
ich fühle mich in meiner Rolle als Übermutter, Managerin und Ansprechpartnerin für Alles nicht mehr wohl. Wie komme ich aus meiner Verantwortung raus, wenn mich vier Kinder und dazu noch mein Mann von morgens bis abends für jede Kleinigkeit zu Rate ziehen … vom Frühstücksteller über den Turnbeutel bis hin zur Kindergeburtstags- und Urlaubsplanung! Ich kann nicht mehr. Nicht einmal für eine Kaffeepause oder fünf Minuten Me-Time reichen mir die Nerven.
Hedwig*, 42
Die Goldfarbs antworten
Liebe Hedwig,
es klingt so, als müsstest du aus deiner Komfortzone raus. Jetzt wirst du sagen: „Waaaaas???? Komfortzone??? Was ich da beschrieben habe, ist das reine Gegenteil von Komfort, oder glaubt ihr, dass Sisyphos, wenn er ewig den Stein hochrollt, auch in seiner Komfortzone ist???“
Komfortzone heißt nicht Hängematte
So merkwürdig es für dich klingen mag, aber die Antwort lautet: Ja. Sisyphos ist in der Komfortzone, wenn er den Stein den Berg hochrollt. Du bist in deiner Komfortzone, wenn du in eurem Familienleben die „Ansprechpartnerin für einfach Alles“ bist. Die Komfortzone hat nicht unbedingt mit Komfort zu tun, sie muss nicht bedeuten, dass du in einer Hängematte liegst, sanft umweht vom warmen Wind der Karibik.
Die Bedeutung ist eher: Das Bekannte, das Eingefahrene, der Weg des geringsten Widerstands. Für Sisyphos ist das „Stein-den-Berg-Hochrollen“ der normale Alltag, das was er immer tut. Er wünscht sich, dass jemand käme und den Stein an seiner Stelle stemmen würde. Aber wenn das plötzlich passieren würde, würde er sich ziemlich verwundert umschauen.
Wer bestimmt die Rollen?
Bei dir könnte der Fall ganz ähnlich gelagert sein. Du hast die Rolle der Managerin in eurer Familie angenommen, es bleibt alles an dir hängen, weil du eben den Stempel „Managerin für Alles“ trägst. Es lohnt sich allerdings zu überlegen, wer dir diesen Stempel aufgedrückt hat. War es dein Mann? Waren es deine Kinder? Oder warst du auch ein kleines bisschen beteiligt?
Eure Familie ist, abgesehen von allem anderen, ein Team. Wie in jedem Team gibt es Rollen. Der Psychologe und Soziologe David Kantor hat in Teams vier Grundrollen ausgemacht:
- Die Iniator:innen geben die Richtung vor und geben Impulse.
- Die Unterstützer:innen erkennen, wo ihre Hilfe gebraucht wird und geben Rückenwind.
- Die Herausforderer:innen geben Widerstand und ermöglichen Korrekturen.
- Die Beobachter:innen behalten aus der Distanz die Übersicht
In einem guten Team können die Mitglieder zu unterschiedlichen Herausforderungen unterschiedliche Rollen einnehmen. So kann man in einem Fachgebiet zum:zur Initiator:in werden und bei einem anderen Thema helfend unterstützen. Alle Rollen sind im Team wichtig.
Ist es dir möglich, die anderen Mitglieder deiner Familie auf deine Reise mitzunehmen? Sie stärker einzubinden? Wo könnten sich die eingespielten Muster durchbrechen lassen? Welche Aufgaben könnte dein Mann übernehmen, was würde ihm gut gelingen? Ist er vielleicht ein versteckter Meister im Butterbrote-für-die-Schule-schmieren?
Kinder ins Teamplay einbeziehen
Die Kinder sind oft in einer Beobachter:in- oder Herausforderer:in-Position: „Mehr Nutella, Papa!“ Aber ab welchem Alter können sie aus diesen Positionen ausbrechen und selbst auch mal Initiator sein? Klar, Dreijährige können keinen Familienurlaub planen, beziehungsweise: Wenn sie es tun, kann es ein sehr eigenartiger Urlaub werden.
Aber musst du wirklich für Alles verantwortlich sein? Wie wäre es, die Dinge auch einmal abzugeben. Das bedeutet für dich, die Komfortzone zu verlassen.
Frage dich, warum du in deiner Rolle als „Managerin für Alles“ gelandet bist.
Hast du vielleicht eine Art Garten Eden für deine Familie eingerichtet, eine Sisyphos-freie Zone, in der niemand Steine den Berg heraufrollt, außer dir? Wer würde es sich nicht in diesem Garten Eden bequem machen? Aber vielleicht vermisst dein Partner sogar die Herausforderungen, weil du ihm alles abnimmst?
Gewohnheiten über Bord werfen
Oft übernimmt man unbewusst Aufgaben, von denen man glaubt, dass sie von einem erwartet werden. Dann kommt man schnell in die Situation, dass man ständig der:diejenige ist, der:die nach einem Ausflug den ganzen Krempel aus den Rucksäcken packen muss, während der:die Andere mit einer Flasche Bier schon die Beine hochlegt.
Durchbrecht diese Gewohnheiten, aber mit Bedacht und Humor. Von eingefahrenen Gewohnheiten, die man überhaupt nicht mag, können so ganz neue Qualitäten entdeckt werden. Vielleicht bist du viel besser im Beine-Hochlegen und Biertrinken, während dein Mann ein As im Rucksackausräumen ist?
„Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, schrieb der Philosoph Albert Camus. Klar: Wir Menschen stehen ständig vor Sisyphosaufgaben, unser Felsen ist der Wäscheberg, er endet niemals. Doch wenn wir die Vergeblichkeit unserer Mühen akzeptieren, erobern wir uns ein Stück Freiheit zurück.
Wie viel schöner, gemeinschaftlicher und gerechter geht es zu, wenn wir alle Sisyphosse sind, jede:r mit unserem eigenen Felsen, den wir gemeinsam auf den unerreichbaren Gipfel zurollen?
Schaut euch den ganzen Steinbruch des Alltagslebens, all die großen und kleinen Felsen, die immer wieder vor euch liegen, einmal gemeinsam an. Überlegt und entscheidet gemeinsam, wer welchen Felsen anpacken könnte. Spuckt in die Hände. Und dann: Let’s roll the rocks!
Ihr habt eine Frage, der sich die beiden Paartherapeut:innen widmen können? Dann schreibt uns an liebegoldfarbs@himbeer-verlag.com
Goldfarb & Goldfarb
Laura und Tobias bieten Paartherapie, Einzelsitzungen, Beziehungs-Check, Mediation und Teambuilding in ihren Räumen in Berlin-Prenzlauer Berg oder als Online-Sitzungen (auch auf Englisch) an. goldfarb-goldfarb.com
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