Auf Bäume klettern, Käfer beobachten oder einfach barfuß über Wiesen oder Matsch laufen – Natur mit allen Sinnen zu erfahren, ist wichtig für die kindliche Entwicklung.
Doch wie und wo geht das in der Großstadt? Welche Grundsteine werden durch diese Erfahrungen gelegt und warum sind diese Räume bedroht?
Wir haben einen dieser Naturerfahrungsräume im Norden Berlins mit vielen neugierigen Kindern besucht und uns über die wissenschaftlichen Hintergründe der Natur- und Erlebnispädagogik informiert.
Wie viel Natur brauchen Kinder?
Der Einfluss, den frühe Bezugspersonen auf die Entwicklung von Kindern haben, ist unbestritten. Doch auch die Natur hat einen nicht geringen Anteil daran. Und das gleich in vielerlei Hinsicht, wie zahlreiche Untersuchungen ergeben haben.
Das fängt bei einer gesunden Entwicklung des Gehirns an, wie der renommierte Neurologe Gerald Hüther in seinem Aufsatz „Die Erfahrung von Natur aus der Sicht moderner Hirnforschung“ dargelegt hat. Doch neben den komplexen Vorgängen neuronaler Verschaltungen im kindlichen Gehirn, haben Erlebnisse in der Natur noch viele weitere positive Effekte.
Die Bewegungsanreize in der Natur kommen dem angeborenen kindlichen Bewegungsdrang entgegen und fördern die motorische Entwicklung. Beispielsweise schult das Balancieren auf einem Baumstamm den Gleichgewichtssinn und das Klettern auf einen Baum die Koordinationsfähigkeit und Muskelkraft.
Aber auch Kreativität und Fantasie werden ohne experimentelles Spielen mit Naturmaterialien, Rollenspiele oder auch das stille Beobachten von Insekten nicht gefördert. Der psychologische Aspekt darf ebenfalls nicht unterschätzt werden.
Denn durch das freie gemeinsame Spiel in diesen Naturerfahrungsräumen werden Selbstvertrauen, Empathie und Sozialkompetenzen herausgebildet – unter anderem durch die Interaktionen in altersübergreifenden Zusammenhängen. Erwachsene, die als Kinder in einer naturnahen Umgebung aufgewachsen sind, erscheinen weniger anfällig für psychische Erkrankungen.
Der Psychologe Ulrich Gebhard verweist in seinem Aufsatz „Die Bedeutung von Naturerfahrungen in der Kindheit aus Sicht der Psychologie“ darauf, dass die spätere Wertschätzung für die Natur das Ergebnis gelungener Naturerfahrungen bei Kindern ist. Somit können die Naturerfahrungsräume den Grundstein dafür legen, dass aus heutigen Kindern später umweltbewusste Menschen werden.
Naturerfahrungsräume
Wo aber können Stadtkinder diese so wichtigen Erfahrungen sammeln, wenn immer mehr Flächen versiegelt und bebaut werden? Hierfür wurden seit 2015 speziell in Berlin im Rahmen eines Pilotprojektes mehrere sogenannte „Naturerfahrungsräume“ geschaffen, die Kindern ein freies, selbstbestimmtes, unbeobachtetes Spielen in der Natur ermöglichen sollen.
Ein wichtiges Kriterium für diese Räume ist, dass mindestens die Hälfte ihrer Fläche naturbelassen sein sollte. Wichtig ist auch ihre Einbettung in die Strukturen der Stadt, sodass Kinder die Spielflächen selbständig aufsuchen können.
Auch sollten sie für eine langfristige Nutzung vorgesehen sein, damit sich eine Bindung der Kinder aus der Nachbarschaft zu dem Ort aufbauen kann. Dafür ist es auch von Bedeutung, dass vor allem die regelmäßig anwesenden Stammkinder an den Prozessen der Gestaltung und Erarbeitung der Regeln vor Ort beteiligt werden.
Wilde Welt Moorwiese
Inzwischen gibt es in der Hauptstadt sechs solcher Naturerfahrungsräume. Als Teil des Pilotprojektes entstand unter Zusammenarbeit der Stiftung Stadtnatur Berlin, dem Jugendamt Pankow und dem Verein Spielkultur Berlin-Buch der Naturerfahrungsraum „Wilde Welt Moorwiese“, der im September 2016 eröffnet wurde.
Direkt am S-Bahnhof Buch, können Kinder oder Familien auf 5.000 Quadratmetern auf Naturentdeckungsreise gehen. Verstecken spielen, auf Findlinge klettern oder Baumkronen erobern.
Das Fehlen von Spielgeräten wie auf herkömmlichen Spielplätzen regt die Kreativität an und sorgt auch für Entspannung. Wichtig war bei der Gestaltung das Einbinden der Kinder aus der Nachbarschaft, die sich einen Hochsitz wünschten, der daraufhin realisiert wurde.
An einem Nachmittag pro Woche ist die Kümmerin der Wilden Welt vor Ort und Kinder sind eingeladen, sich an der Pflege des Ortes zu beteiligen. Das kann Zäune flechten, Müll sammeln oder auch Hopfen pflanzen umfassen. In dieser Zeit werden auf Wunsch auch Utensilien wie Lupen, Leitern oder Seile an die Kinder ausgeliehen.
Beliebt ist außerdem das Spielen mit und im Matsch. Einmal im Jahr wird daraus sogar ein richtiges Event, das „Matsch Moor“. Auch aus unserer Truppe ziehen einige begeistert die Schuhe und Strümpfe aus und waten durch den braunen Schlamm.
Der Matsch erinnert die Kleinen direkt an Kacke. Mitarbeiterin Ulrike Homuth, die uns in Empfang genommen hat, versichert allerdings, dass es sich wirklich nur um Matsch handelt. Denn was würde denn passieren, wenn es tatsächlich Kacke wäre? Dass es dann stinken würde, wissen auch schon ganz kleine Kinder. Und auch vor Fliegen würde es dann bereits wimmeln.
Matsch scheint eine ganz besondere Faszination auf die kleinen Besucher:innen auszuüben, denn einige wollen mit ihren Füßen gar nicht mehr aus der klebrigen Pampe raus, während die andere Gruppe schon in den direkt angrenzenden Abenteuer- und Archäologiespielplatz Moorwiese weiterzieht.
Abenteuer- und Archäologiespielplatz Moorwiese
Während die „Wilde Welt“ zum freien Spiel für Familien vorgesehen ist, die vor allem an Wochenenden auch vermehrt aus anderen Stadtteilen kommen, verfolgt der Abenteuer- und Archäologiespielplatz ein völlig anderes Konzept.
Der pädagogisch betreute Ort steht Kindern von sechs bis 16 Jahren nachmittags offen – ohne Eltern. So können sie sich freier austesten, neue Erfahrungen machen und auch mal Risiken eingehen.
Die Möglichkeiten sind abwechslungs- und umfangreich, allerdings steht nicht immer jedes Angebot zur Verfügung. Denn alle Stationen müssen von Mitarbeitenden betreut werden. Sei es Bogenschießen, Schmieden, Kochen, Feuer machen oder Hüttenbau.
Gerade bei letzterem Angebot sei es laut Mitarbeiter Sigmar Schurich gut, wenn die Eltern nicht dabei sind, denn diese seien oft sehr ängstlich.
Doch wie man mit einem Kuhfuß einen alten Nagel aus einem Brett entfernt, ist eine Kompetenz, die Kinder in der Stadt kaum mit auf den Weg bekommen. Für zwei alte Nägel bekommen sie einen neuen, den sie für die Arbeit an einer Hütte verwenden können.
Und wer weiß schon, dass Holz an Astlöchern härter ist? Sie lernen von dem Tischler und Erzieher aber nicht nur, dass man mit einem längeren Hebel weniger Kraft benötigt, sondern auch Verantwortung. Zum einen für das Werkzeug, für das sie sich in eine Liste eintragen müssen, zum anderen für Sauberkeit und Ordnung. Am Ende gehört Aufräumen immer dazu.
Eintauchen in die Steinzeit
Schurich ist es auch, der donnerstags die Schmiede betreut. Diese ist Teil des Konzeptes der experimentellen Archäologie, die nicht das Interpretieren von Funden zum Ziel hat, sondern eigene Erfahrungswerte zu sammeln.
Einige Techniken der Vergangenheit werden den jungen Gästen direkt hier nahegebracht. Die Archäologie als Thema kommt dabei nicht von ungefähr. Bereits vor über 100 Jahren führte man in Buch archäologische Ausgrabungen durch.
Diese wurden in jüngerer Zeit fortgesetzt und germanische Siedlungen freigelegt, die unter anderem aus der Eisenzeit stammen. Der Schmied, der laut Schurich ein Upcycler ist, passt also bestens dazu. Er zeigt den neugierigen Kindern, wie aus Altem Neues entstehen kann, beispielsweise ein Anhänger aus einem Hufnagel.
Die Schmiede sei, so Schurich, unabhängig vom Geschlecht der Kinder spannend. Wichtig sei für die Kinder außerdem, dass sie etwas mit nach Hause nehmen dürfen.
Unterdessen merken die Kids beim Bogenschießen, wie schwierig das sein kann. Die Zielscheiben oder den (natürlich unechten) Eber im hohen Gras zu treffen, ist gar nicht so einfach. Mit ein bisschen Übung und geduldiger Anleitung von Ulrike Homuth klappt es bei manchen dann aber doch ganz gut.
Erfolgserlebnisse, die das Selbstvertrauen stärken, gehören hier dazu! Neben dem personellen Mangel, der dazu führt, dass nicht immer alle Angebote stattfinden können, gibt es natürlich auch Saisonales wie Kräutersammeln und Gärtnern. Auch die Lehmhütten werden ausschließlich im Sommer gebaut.
Wer kommt zur Moorwiese?
Zwar steht die Moorwiese Kindern zwischen sechs und 16 Jahren offen, das Kernalter ihrer Schützlinge gaben die Pädagog:innen allerdings mit acht bis zwölf Jahren an. Vorher haben viele Erziehungsberechtigte noch ein ungutes Gefühl dabei, ihre Kinder alleine loszuschicken.
Bei den Teens sind es vor allem ehemalige Stammkinder, die gelegentlich vorbeikommen, um beispielsweise nach ihren selbst gezimmerten Hütten zu sehen. Wer im Teenager:innealter das erste Mal kommt, dockt nach der Erfahrung Homuths in der Regel nicht mehr richtig an.
Als Konkurrenten für einen Nachmittag auf dem Abenteuerspielplatz sehen die Mitarbeiter:innen vor allem das Wetter und das Mediale. Immer mehr Kinder und Jugendliche würden sich vermehrt zum Zocken verabreden. Ein Trend, der sich während Corona noch verstärkt habe.
Viele hätten sich in dieser Zeit völlig in die Isolation zurückgezogen. Und auch das Bundesamt für Naturschutz beobachtet eine zunehmende Verhäuslichung und eine Entfremdung von der Natur, welche zu immer mehr körperlichen, sozialen und psychischen Defiziten führt. Hierfür hat sich sogar bereits der Begriff „Natur-Defizit-Syndrom“ etabliert.
Gentrifizierung und Umweltgerechtigkeit
Obwohl sich die Naturerfahrungsräume erst seit einigen Jahren in Großstädten herausbilden und deren Nutzen vielfach belegt wurde, sind sie bereits von der Verdrängung betroffen, denn um dem Wohnungsmangel – speziell in Berlin – zu begegnen, wird immer dichter bebaut.
Aktuell betroffen ist davon auch die Moorwiese. Von den Bebauungsplänen erfuhren die Mitarbeiter:innen allerdings erst durch einen Aushang am Gelände. Inzwischen hat sich breiter Protest formiert und regelmäßig rufen Anwohner:innen und Aktivist:innen zu Demonstrationen auf, um die knapp 3.000 Wohneinheiten zu verhindern.
Selbst wenn zunächst „nur“ eine Randbebauung realisiert würde, sieht Homuth zu viel Konfliktpotenzial, denn die Kinder sollen hier auch laut sein dürfen.
„Besonders in Großstädten gibt es aber immer weniger dieser Orte. Daher müssen diese erhalten und neue geschaffen werden. Der Naturerfahrungsraum in Buch mit seinem angrenzenden Abenteuerspielplatz ist ein solch wertvoller und gut etablierter Ort“, so Maria Schoenen, Projektleiterin der Beratungsstelle Naturerfahrungsräume (NER) bei der Stiftung Naturschutz Berlin.
Die Abnahme von wohnortnahen Grünflächen stellt eine Bedrohung urbaner Lebensqualität für Kinder dar und somit steht sie auch der Umweltgerechtigkeit entgegen, auf die auch Stadtkinder ein Anrecht haben. Auch sie brauchen Zugang zu natürlicher Umwelt und dürfen keiner höheren Umweltbelastung ausgesetzt sein.
Ungeachtet aller theoretischen Hintergründe und problematischen Bedingungen von Bebauungsdruck bis Unterfinanzierung hat unsere wilde Kindergruppe einfach einen Riesenspaß beim Klettern, Bauen, Bogenschießen, Schmieden und Matschen – und so sehen sie am Ende des Tages auch aus: glückliche, verdreckte Kinder, die sich etwas getraut und neue Erfahrungen gesammelt haben.
Abenteuer- und Archäologiespielplatz Moorwiese, Wiltbergstr. 29B, 13125 Berlin, mooor.de, Sommerschließzeit bis 22.08.2023, bitte informiert euch immer auf der Website über die aktuellen Öffnungszeiten.