Von Eulen, Lerchen und anderen Tieren im Kinderbett. Kinderschlaf – ein Thema, das einen schier unendlichen Geschichtenschatz birgt. Von den sagenhaften Babys, die schon nach kurzer Zeit durchschlafen, bis zu fast präpubertären Jungs, die sich von der Coolness, die sie an den Tag legen, nachts mit Kuscheleinheiten im elterlichen Bett erholen müssen.
Eltern haben viel zu berichten, wenn man sie nach den Schlafgewohnheiten ihre Kinder fragt – von nächtlichen Schreianfällen, absterbenden Eltenarmen beim Händchenhalten am Kinderbett, von Vorlesemarathons und Kuscheltierzoos. Wir haben einen Blick in sieben verschiedene Kinderbetten geworfen – wo und wie Kinder schlafen, was für sie dabei unverzichtbar ist, hat Sibylle Baier für uns erkundet.
Die Dachsammer kann bis zu fünf Tagen ohne Schlaf auskommen. Sie fliegt die Nächte durch, jagt am Tag Insekten und ernährt dazwischen ihre Jungen. In der Tierwelt gibt es für vieles einfache Lösungen. Die Tierbabys schlafen auf einem felligen Häufchen mit ihren Geschwistern und sind nie alleine. Die Mauersegler schlafen im Flug, sie betten sich auf eine warme Luftmasse und segeln so durch den Himmel. Sie müssen nie aufhören zu fliegen. Seepferdchen schlürfen den ganzen Tag Meerwasser, da sie keinen Magen haben, sind sie immer hungrig. Auch im Schlaf wird geschlürft.
Für Kinder hieße das: Matratzenlager mit den liebsten Freunden und Geschwistern, während man schlafend spielen kann und fortwährend Mango-Smoothies oder Milchshakes aus einem unerschöpflichen Vorrat schlürft. Für den einen ein Traum, für den anderen eine Strafe. Kinder sind in ihrem Schlafverhalten so unterschiedlich und eigenwillig wie wir Erwachsene. Sie müssen nur erst herausfinden, wie es für sie gut funktionieren kann.
Was für die große Schwester immer richtig war, kann für den kleinen Bruder schon gar nicht mehr gelten. Und das dritte Kind im Bunde kann schon wieder ganz anders sein und will nur endlich seine Ruhe haben. Das Schlafbedürfnis variiert dem Alter entsprechend und von Mensch zu Mensch.
Die Nacht gliedert sich für alle in wiederholende Schlafphasen. Vom unruhigen REM (Rapid Eye Movement) Schlaf in den Tiefschlaf, kurze Wachphasen, gefolgt von REM und Tiefschlaf. Das Verhältnis der verschiedenen Schlafphasen verändert sich im Laufe des Lebens mehrfach.
Vom Vielschläfer als Baby bis hin zur senilen Bettflucht, werden wir alles durchleben. Doch die Kleinsten unter uns müssen zuerst lernen, die kurzen nächtlichen Wachphasen selbstständig zu bewältigen, um wieder alleine einschlafen zu können. Erst wenn sie diesen Schritt erlernt haben, werden die Nächte wieder ruhig und erholsam. Und zwar für alle. Vier Familien geben uns Einblick in sieben verschiedene Kinderköpfe und deren Verhältnis zum Schlaf.
Mit Ritual und Schnuckeltuch
Caspar 1 Jahr
Caspar ist ein glücklicher kleiner Schläfer. Nicht immer genau dann, wenn es von ihm erwartet wird, aber meistens gerne. Der Schlaf ist sein Freund. Das ist besonders für seine Mutter schön, die selbst als Kind nicht so gerne geschlafen hat. Deswegen war es ihr auch ein großes Bedürfnis, dem erstgeborenen Kind ein gutes, gesundes Verhältnis zum Schlaf mitzugeben.
Caspar wurde gestillt, wenn er dabei müde wurde, durfte er beim Trinken auch einschlafen. Erst mal egal, wann und wo, solange er sich geborgen fühlte. Das Elternbett war immer auch sein Schlafplatz und ist es bis heute, wenn die Nächte mal unruhig sind. Ruhe und Erholung für alle wurde zum obersten Gebot, weshalb das Baby im Bett schlafen durfte, dort gestillt wurde, auch wenn es manchmal eng war. Solange keiner der Anwesenden sich gestört oder beengt fühlt, ist das eine einfache, weltweit praktizierte Verhaltensweise.
Keine Verlustängste von Seiten des Kindes, keine Sorge über Krankheit oder Schlimmeres aus Sicht der Eltern. Nur irgendwann möchte man das Bett wieder für sich alleine, respektive als Paar bevölkern. Wohin mit dem Kind, dessen natürliches Rechtsgefühl an dieses Bett gebunden ist? Caspars Mama hat diese Frage und die damit verbundene Aufgabe direkt an den Papa delegiert. Drei Nächte mit ihm und das Kind war abgestillt und schläft seither im eigenen Bett.
Damit der Übergang vom Tag in die Nacht einfach ist, hat Caspars Familie ein abendliches Ritual initiiert. Caspar bekommt sein Milchfläschchen, sieht sich am liebsten mit beiden Eltern gemütlich kuschelnd ein Buch an, dann werden die Zähne geputzt, ins Bett gelegt und ein Gebet gesprochen. Diese kleine Zeremonie fällt bei allen Familien so unterschiedlich aus, wie wir alle verschieden sind, hat aber für alle denselben Effekt, dass sie ankündigt, was in der nahen Zukunft passieren wird. Erwartungen werden geweckt und immer wieder erfüllt. Dann hat das Einschlafen, das Hinübergleiten in die Traumwelt nichts Unbekanntes, sondern es ist ein wiederkehrendes Ereignis.
Caspar hat als kleine Hilfe sein Tuch. Ein großes, feines, weiß-blau gemustertes Baumwolltuch von Bottega Veneta. Eine Leihgabe an die Mama, als Stilltuch gedacht, als dieses auch benutzt, bis Caspar beschlossen hat, es nie wieder herzugeben. Nun ist es immer noch schön und so durchgeliebt, dass es mehr an ein altes, oft gewaschenes Herrentaschentuch erinnert als an ein prächtiges Damenhalstuch.
In Gesellschaft schläft sich besser
Florentine, 5 Jahre, Torge, 6 Jahre, und Samuel, 7 Jahre
Sie sind alle Zweitgeborene, die gerne viel und überall schlafen und dabei sehr eigenwillige Ideen der Nachtruhe pflegen. Florentine hat den internen Familiennamen „Tagesschau-Kind“ bekommen, weil sie immer pünktlich um acht Uhr schlafen geht. Torge schläft gerne eine Viertelstunde später, also das „Tatort-Kind“, aber auch er findet einfach und ohne große Mühe in den Schlaf.
Samuel hingegen ist die klassische Eule, geht gerne spät ins Bett und würde, wenn man ihn denn ließe, bis spät in den Morgen schlafen. Ist dieses entspannte Schlafverhalten gottgegeben oder liegt das nun am Zweitgeborenen-Dasein, daran, dass es ein Geschwisterkind gibt, das sogar im selben Zimmer schläft oder an den entspannten Eltern? Wahrscheinlich an einer Mischung aus allem.
Florentine brüllt jedoch nachts durch die ganze Wohnung wenn sie zufällig wach wird, Durst oder Hunger hat oder einfach nicht mehr zurück in den Schlaf findet. Nicht aus einer existentiellen Not heraus, sie möchte nur nicht aufstehen und die restlichen Familienmitglieder schlafen zu fest und würden sie sonst nicht hören. Wenn sie dann nicht wieder einschlafen kann, muss ihr Papa zu ihr ins Bett kriechen. Das geht gut, da Flori schon sehr lange in einem großen Bett schläft und wenn man sechs der großen Kissen beiseite schiebt, dann hat sogar ein Erwachsener neben ihr Platz.
Torge teilt sein Zimmer mit seinem großen Bruder Peer, seit er nicht mehr gestillt wird. Er war also nie alleine im Zimmer, es gab schon ein Nachtlicht, das für Peer installiert wurde, es wird immer eine Geschichte vorgelesen und außer irgendwann den Raum zu verlassen, fiel Torge zum Thema Nachtschlaf und eigenwilligen Schlafgewohnheiten nichts Neues mehr ein. Und genau das macht er: Von einem inneren Uhrwerk getrieben wandert er jede Nacht zur ähnlichen Zeit ins Elternbett. Ein lauter Rumpel, wenn er aus seinem halbhohen Etagenbett springt, kündigt ihn an. Mit eigener Decke sucht er dann die Mitte des Elternbettes und schläft genüsslich weiter.
Samuel schläft richtig gerne. Ist eine Autofahrt zu lang, eine Veranstaltung zu eintönig, eine Krankheit im Anmarsch oder es schmerzt der Kopf: Freund Schlaf hilft aus jeder misslichen Lage heraus. Es wird geträumt, gelacht, geredet und manchmal auch im Schlaf gewandelt. Das Bett, oder auch der Platz, der dazu erklärt wird, ist immer ein Ort von Geborgenheit und Zufriedenheit.
Bei Samuel gibt es im eigenen Bett viele tierische Weggefährten, die die nächtliche Ruhe mit ihm teilen. Jaulo, Mauli, Katze, Adler und Affi, rotieren auf ihren angestammten Plätzen im Bett. Bis jedes Tierchen seinen Platz gefunden hat, die Decke verteilt ist, die Schlafhauben zurecht geruckelt sind, kann an einem Abend viel Zeit vergehen. Besonders groß ist dann der Ärger, wenn anschließend nicht mehr genug Zeit ist, um mit Lucky Luke die Daltons zu verfolgen, weil Eltern immer behaupten, man wäre dann am nächsten Tag müde, denn Kinder bräuchten ihren Schlaf.
Napoleon wird zum Beispiel nachgesagt, er hätte nur vier Stunden Schlaf pro Nacht benötigt. Albert Einstein hingegen hat sein Bett wohl nie unter zehn Stunden Tiefschlaf verlassen. Was uns das historisch betrachtet über diese beiden sehr unterschiedlichen Charaktere erzählt, sei dahin gestellt. Was es aber klar macht, ist, dass die Länge des Nachtschlafs von Mensch zu Mensch variiert. In Europa hat sich weitgehend eine Kultur entwickelt, die vorgibt, im besten Falle vor Mitternacht zu schlafen, ungefähr acht Stunden lang, um bei Sonnenaufgang wieder aufzustehen. Auch hier gibt es Varianten und Bewegung, doch im Großen und Ganzen hat sich dieses aus dem Zeitalter der Industrialisierung stammende Konzept bis heute Bestand. Christoph-Wilhelm Hufeland (1762-1836), königlich-preußischer Leibarzt, hat diese Idee prägend mitgestaltet, um die Produktivität der preußischen Arbeiter zu optimieren.
In afrikanischen und indigenen Völkern, wird hingegegen in Gruppen geschlafen. Einzelne bewachen und beschützen den Schlaf der anderen, gegen Angriffe von außen. Die Japaner haben ein besonderes Verhältnis zum Schlaf: Inemuri – Anwesenheitsschlaf. Das ist nicht das, was pubertierende Teenager in den ersten Schulstunden des Tages demonstrieren, sondern es bezeugt die hohe Tatkraft des Schläfers. Wer in Japan am Tag schläft, beweist damit, dass er seinen kostbaren nächtlichen Schlaf sogar der Arbeit geopfert hat und deswegen am Tag diese kurze Ruhepause benötigt. Dieses Nickerchen ist gesellschaftlich anerkannt und wertgeschätzt.
Albert Einstein, der Lang- und Vielschläfer, hat auch gerne am Nachmittag ein Nickerchen gemacht. Seinen so genannten Schlüsselschlaf. Er schlief mit seinem Schlüsselbund in der Hand ein, solange bis ihm der Selbige aus der Hand gefallen ist und er vom Scheppern wach wurde. Damit hat er verhindert, allzu lang und tief zu schlafen. Vielleicht auch eine Art Inemuri.
Mit Geschichten in den Schlaf
Käthe, 9 Jahre, Peer, 10 Jahre, und Matilda, 11 Jahre
Die drei großen, erstgeborenen Kinder mussten ihren Weg zum Schlaf auch erst finden. Heute hat Käthe viele kleine Begleiter die sie behutsam in den Schlaf führen. Viele Eulen, ein Fohlen und den kleinen Hasen, der schon seit dem ersten Lebensjahr seinen treuen Dienst erfüllt. Doch bevor diese so genannten Übergangsobjekte ihren Dienst antraten, gab es lange Nächte mit vielen Tränen, Wanderungen zum Bett der Eltern, einem großen Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit, in einer größer werdenden Welt. Für die Eltern nicht absehbar oder vorausschaubar blieben die nächtlichen Besuche vom einen auf den anderen Tag aus.
Peer ist nie spaziert wie sein Bruder Torge. Peer macht sich nicht auf den Weg, er wartet, er ruft, er holt sich Hilfe. Zuerst war es nur das Nachtlicht, dann ein Elternteil, das neben ihm auf der Matratze lag, bis er eingeschlafen war. Heute sind es außer den Büchern viele kleine Handgriffe, die zu seinem ganz persönlichen Schlafzeremoniell gehören. Die Kissen müssen richtig liegen, Reißverschlüsse nach unten, das kleine Kuscheltier auf dem Kopfkissen, ein Glas Wasser auf dem Regal und das Sicherungsnetz, das sein wirklich hohes Hochbett umgibt, muss richtig verschlossen sein.
Matilda dagegen war schon immer Puristin. Junge Eltern mit eigenen Bedürfnissen, ein aufgewecktes Baby, das sich schnell an den Rhythmus der Erwachsenen angepasst hat. Der Babysitter war das Babyfon im Haus, in einer benachbarten Wohnung von Freunden. Matilda hatte selten Angst und hat über das Babyfon nicht nach den Eltern gerufen, sondern sich gerne ein Glas Apfelsaft bei den Nachbarn bestellt. Außer einem Kissen mit Katzenkopf gibt es in ihrem Bett bis heute keine wichtigen Schlafgefährten.
Diese großen Geschwister sind auch ein wenig die Experimentierkinder der Eltern. Zu welchem Schlaftyp gehören sie? Lerchen, Eulen oder gehören sie ausnahmsweise zu den wenigen Menschen die ganz ausgeglichen sind und immer zur selben Zeit einschlafen und aufwachen? Deren Tag-Nacht-Empfinden sich nie verschiebt?
Käthe zum Beispiel ist eine Eulenlerche. Am Abend ist sie nicht müde, tut sich schwer beim Einschlafen, aber am Morgen ist sie ganz lerchengleich die Erste, die wach ist. Mit blank geputzten Äugelein liegt sie im Bett und liest, wartet, bis alle anderen auch endlich wach werden. Guter Dinge und voller Energie für den Tag. Peer liest eher abends, wenn der Schlaf nicht kommen mag, die Gedanken zu unruhig und wild und vielleicht schlechte Träume im Anmarsch sind. Alles das wird dann weggelesen. Eine Geschichte, ein Comic verdrängt die dunklen Gedanken und bietet lustige Bilder für fröhliche Träume.
Matilda liest immer und gerne und viel und manchmal träumt sie ihre Bücher auch weiter und schreibt sie in ihrer Phantasie zu besseren Geschichten um. Wenn aber der Schlaf auf sich warten lässt, zu viele Gedanken und Ideen und die Vorfreude auf den nächsten Morgen keine Ruhe zulassen, dann hilft nicht ein Buch, sondern Stift und Papier. Überall liegen kleine Papierschnipsel, die Matildas Mama aus dem Büro mitbringt. Da wird dann notiert, was den Kopf beschäftigt. Nichts geht verloren zwischen Heute und Morgen.
Was passiert eigentlich wenn wir schlafen? Geben wir die Kontrolle ab und befinden uns im Nichts, in einem gemüseähnlichen Zwischenstadium? Fürchten sich manche Kinder deswegen so sehr vor dem Einschlafen, dem Loslassen und sich Fallenlassen? Zuerst schlägt das Herz mal langsamer, da unser ganzer Biorhythmus, im Stand-by-Modus verweilt. Wir müssen nicht auf Toilette, da die Niere weniger Urin produziert. Meistens haben wir auch keinen Hunger, da wir schlafend nur einen geringen Energieumsatz haben. Solange wir also eigentlich nichts tun, passiert dennoch etwas. Somatropin, besser als Wachstumshormon bekannt, wird im Schlaf gebildet und im Körper ausgeschüttet. Unsere Haare, Nägel und bei Kindern der ganze Körper wachsen im Schlaf. Die größte Menge an Somatropin wird während der Pubertät gebildet. Doch außer dem sichtbaren Wachstum gedeiht auch noch unser Langzeitgedächtnis im Schlaf.
Erst durch die langsameren Hirnströme während der Nacht ist es unserem Gehirn möglich, Erinnerungen aus dem Kurzzeitgedächtnis im Langzeitgedächtnis abzuspeichern. Vokabeln lernen im Bett und mit dem Buch unterm Kopfkissen schlafen gehen, hilft also doch! Genau deswegen brauchen Kinder aber auch mehr Schlaf als Erwachsene. Kinder und Jugendliche sind Lernexperten, sie lernen jeden Tag so unvorstellbar viel, dass ihr Gehirn die nächtlichen Ruhepausen dringend benötigt.
Caspar, der glückliche Schläfer, Florentine, das Tagesschaukind, Torge, der Deckenklauer, Samuel, der Tierfreund, Käthe, die Eulenlerche, Peer, der Zeremonienmeister und Matilda, die Puristin mit Stift und Papier. Es gibt keinen idealen, besten oder richtigen Weg zum Schlaf. Kinder schlafen, so wie sie sind, wie es für uns als Familie möglich ist und wie es ihren Bedürfnissen entspricht. Nicht unähnlich dem wiederkehrenden Bedürfnis zu wissen, was machen eigentlich die Eltern, während man selbst schläft. Und die immer gleiche Frage, „Mama, wo bist Du?“, wird abends in vielen Kinderzimmern ähnlich beantwortet werden: „Im Wohnzimmer oder auf dem Mond. Wo denn sonst.“