Abenteuer Großfamilie: Nur gut jede zehnte Familie ist hierzulande eine sogenannte "Mehrkindfamilie" mit drei oder mehr Kindern. Wie lebt es sich als große Familie? Welche Tücken lauern im Alltag rund ums Wohnen, Reisen und Geld? Und wie gelingt es den Eltern, allen Kindern die nötige Aufmerksamkeit zu schenken – und selbst nicht zu kurz zu kommen? Zu Besuch bei drei Familien, die eine Erfahrung eint: Großfamilien sind großartig!
5 Kinder – Abendessen bei einer siebenköpfigen Familie: Schon im Hausflur hört man die fünf Kinder im ersten Stock toben. Dana (43) steht in der Küche, der Nudeltopf dampft. Die Familie ist spät dran. Ein Ausflug ins Umland, wo der älteste Sohn Fabian (12) im Wald endlich seinen neuen Pfeil und Bogen ausprobieren durfte. Ein Geburtstagsgeschenk. Das Ausprobieren habe eine Weile gedauert, erzählt Vater Tobias (35), während er den Tisch im Wohnzimmer der 120 Quadratmeter-Wohnung deckt.
Schnell wird klar: In einer Großfamilie muss sich jedes Kind durchsetzen. Wer nicht den Mund aufmacht, geht unter. Fünf Kinder – fünf Bedürfnisse. „Ich möchte kein Einzelkind sein“, sagt Fabian dennoch und seine Geschwister nicken. „Hier ist immer was los und es kommt nie Langeweile auf.“ Und sein kleiner Bruder Louis (5) ergänzt feixend: „Ich möcht’ lieber noch mehr Kinder.“ Weiter in der Küche: Oft müssen sich Sturms beim Kochen sputen. Dana ist freiberufliche Pianistin, Tobias spielt Geige an der Oper. Beide lernten sich an der Musikhochschule kennen.
„Wir kochen, was der Tagesablaufplan hergibt“, sagt Tobias und lacht. „Du kannst ihn dir ja mal anschauen.“ Am Kühlschrank hängt ein akkurat designter Wochenplan, den beide Eltern auch auf dem Smartphone führen. Rot sind die Termine von Dana, blau die von Tobias. Die beiden ältesten Söhne Fabian (12) und Elias (10) haben ebenfalls Farben für den Cello-Unterricht und die Fußball-Stunden. Dann gibt es da noch Amelie (8), Louis (5) und den kleinen Augustin (2).
Dies könnte nun eine Geschichte über das harte Leben in einer Großfamilie werden. Darüber, dass Psychologen Großfamilien oft als „Risikofaktor für die kindliche Entwicklung“ sehen, weil diese durch weniger Aufmerksamkeit weniger Förderung erfahren würden. Darüber, dass Großfamilien immer noch viel Diskriminierung im Alltag erfahren. Und darüber, dass zu vielen Großfamilien zu wenig Geld fürs Leben zur Verfügung steht. Doch das würde zu sehr überschatten, welch große Vielfalt und Lebensfreude hier wartet. Sie schlägt sich in allen Gesprächen mit den Eltern und bei allen Besuchen deutlich wieder: Eine große Familie bedeutet auch großes Glück.
Selbstverständlich gibt es im Alltag auch Schwierigkeiten. Nicht nur das einzige Bad erweist sich zum Beispiel bei der siebenköpfigen Familie morgens als Nadelöhr, wenn die älteren in die Schule müssen. Auch der perfekt durchgetaktete Wochenplan gerät durcheinander, wenn eine „Baustelle“ dazwischen kommt. Einmal hatten sie gleich drei: Der eine Sohn litt in der Schule unter ein paar Mitschülern, der andere stand kurz vor dem Schulwechsel und dann hatte Dana selbst noch eine berufliche Veränderung. Auch das haben sie gemeistert.
Alle Kinder seien Wunschkinder, erzählt Dana beim Abendessen. Zu den Nudeln gibt es Soße mit Tofu und Gemüse. Dazu reichen die Eltern frisch geschnittene grüne Paprika und Kohlrabi. Der kleine Augustin darf auftun, die Mama hilft beim Halten der Kelle. „Die lange Single-Phase habe ich einfach übersprungen“, sagt Tobias, der mit 23 zum ersten Mal Vater wurde.
Doch mit dem vierten Kind kamen auch die Zweifel: Können wir das finanziell schaffen? Werden wir dann von anderen komisch angeschaut? Werden sie nicht. Negative Erfahrungen habe es so gut wie nie gegeben, positive dafür sehr viele, berichtet Tobias Sturm. Auch von Alltagsdiskriminierungen mag sich Dana nicht unterkriegen lassen. Etwa, wenn die Deutsche Bahn in ihrem Online-Buchungssystem für Familientickets keine Familie mit sieben Personen vorsieht. „Dann müssen wir halt an den Schalter gehen.“
Doch wie gelingt der Spagat, allen fünf Kindern gerecht zu werden und trotzdem selbst nicht zu kurz zu kommen? Tobias nennt es einen „Balance- Akt“. Ein Ausgleich für beide ist der Beruf. Trotz fünf Kindern wollen sie mehr sein als 24-Stunden-Eltern. „Ich finde, nur wer mit sich selbst im Reinen ist, kann auch für andere da sein“, sagt Dana. Sie hat überdies gelernt, schnell Entscheidungen zu treffen. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass es mit fünf Kindern genauso klappt wie mit zweien. Und sie hat gemerkt, wie bereichernd fünf Kinder sein können. „Dieses Familienleben ist das Schönste, was mir in meinem Leben passiert ist.“
Die Kinder sind mit Abendessen fertig, die ältesten wippen unruhig auf ihren Stühlen. „Tobias, dürfen wir schon aufstehen?“ – „Klar, geht ruhig.“ im Lesezimmer rutschen Amelie, Elias und Fabian auf der Couch zusammen und stecken die Köpfe in große Lesebücher. Fünf Zimmer hat die Wohnung; zwei multifunktionale Wohnzimmer inklusive Flügel und drei verschieden große Kinderzimmer. Noch schlafen die vier größeren Kinder gemeinsam auf einer Hochebene mit vier Matratzen im größten der Kinderzimmer, darunter schlängelt sich eine Holzeisenbahn.
Mit Rückzugsmöglichkeiten sieht es da für alle Beteiligten zwar eher enger aus als anderswo. Andererseits werden diese bisher aber auch nur äußerst selten nachgefragt, sagen die Eltern. Die Kinder verstehen sich, bestätigt ebenfalls Tobias‘ Mutter, die für ein Wochenende aus Bielefeld zu Besuch ist. Sie selbst ist ebenfalls in einer Großfamilie mit fünf Kindern aufgewachsen. In der Großeltern-Generation waren Großfamilien noch viel selbstverständlicher. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich die heute dominante Familienform Vater, Mutter und zwei Kinder mit dem Aufkommen der bürgerlichen Industriegesellschaft.
Zum Vergleich: Bis Anfang 1900 lag die Geburtenrate bei weit über vier Kindern pro Frau, informiert das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB). „So bekam ein Sohn mit Ende 20 von seinem Vater den Hof vererbt, durfte dann heiraten und eine Familie gründen. Das Ehepaar bekam über die Jahre vielleicht sechs oder acht Kinder, von denen aber nur etwa die Hälfte das erste Lebensjahr überlebte“, erklärt Detlev Lück vom BiB.
Mit der Industrialisierung habe dann die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnstätte begonnen und damit auch die voranschreitende Trennung der Geschlechterrollen. Kinder verloren ihren Stellenwert als Arbeitskraft. Damit büßte auch die „Mehrkindfamilie“ – so der offizielle Terminus der Statistiker – zunehmend an Attraktivität ein.
Heute leben nur noch in knapp elf Prozent aller Familien drei Kinder, teilt das Statistische Bundesamt auf Basis der jüngsten Mikrozensus- Auswertung mit. Zum Vergleich: Mehr als die Hälfte der Familien haben ein Kind, in gut 36 Prozent sind es zwei Kinder, informiert der Verband kinderreicher Familien Deutschland. Zudem leben kinderreiche Familien eher in den alten Bundesländern, haben häufiger einen Migrationshintergrund und sind meistens bei Besserverdienern zu finden.
6 Kinder – Sechsfachmutter Barbara (43) wehrt sich gegen die Psychologen-Meinung, Kinder aus Mehrkindfamilien würden weniger Förderung erfahren. „Eine Großfamilie von heute ist völlig anders als die Großfamilie vor hundert Jahren, als alle Kinder auf dem Bauernhof mitgelaufen sind und das große Thema war, alle satt zu kriegen.“
Mit sechs Kindern zwischen drei und neun Jahren und ihrem Mann Mikel (43) lebt die Architektin in einer großen Altbauwohnung. Heutzutage spiele die Förderung von Kindern eine viel wichtigere Rolle. „Das bedeutet natürlich auch viel Organisation: Der eine muss zum Klavier-, die andere zum Sportunterricht. Natürlich bleibt da für jedes Kind etwas weniger Zeit, aber sie haben andererseits immer jemanden zum Spielen.“ Somit würden Kinder in Großfamilien auch sehr schnell wichtige soziale Schlüsselkompetenzen erlernen.
Das Paar lernte sich vor zehn Jahren in Peking kennen, als Barbara gerade ihre Doktorarbeit schrieb. Sie bekamen drei Jungs und drei Mädchen – darunter zweimal Zwillinge. „Vier waren geplant, dann sind wir bei sechs gelandet“, erzählt Barbara Münch und sieht es locker. „Man hat ja nicht auf einen Schlag sechs Kinder, sondern bekommt sie nacheinander und wächst somit in die Rolle rein.“
Vor Kurzem ist die Familie zurück nach Deutschland gezogen. Der große Umzugscontainer ist frisch eingetroffen, am Wochenende steht für die Uni-Dozentin wieder eine Exkursion mit Studenten nach Peking an. „In China waren wir natürlich als Großfamilie die Sensation“, erinnert sich Barbara. Doch auch im Land der Ein-Kind-Politik hätten immer mehr Paare dank Ausnahmeregelungen zwei Kinder. Hier in Deutschland sei die Reaktion auf sie relativ unaufgeregt. „Allerdings passen wir in kein Formular.“ Bei Ämtern muss sie immer zwischen den Zeilen oder auf die Rückseite schreiben. Auch in punkto Betreuung und Finanzen hatte es die Familie in China etwas einfacher. Hier konnten sie sich sogar eine Haushaltshilfe und einen Fahrer leisten. In Deutschland hilft immerhin ein Au-pair-Mädchen.
4 Kinder – 14 Uhr am Nachmittag bei Alix, Stefan und ihren zwei Zwillingspärchen: Die beiden Mädchen Emma und Lilly (7), sind gerade aus der Schule gekommen, die beiden Jungs Caspar und Frido (3) spielen in der Wohnküche im ersten Stock. Ein Nachbarsjunge tobt mit über den Teppich. Emma führt ihn in einem improvisierten Pferdehalfter durch die Wohnung. „Willst du mal mein Putzzeug sehen?“, fragt sie den Besucher.
Zum Mittagessen gibt es Pellkartoffeln, Kürbissuppe und Linsen mit Rindfleisch. Alix (43) berichtet stolz, dass sie seit Wochen das Meiste aus dem Schrebergarten mitbringe und nur noch wenig einkaufen müsse. Der Schrebergarten ist aber nicht nur Supermarkt, sondern auch Rückzugsort; hier kann die gelernte Erzieherin und Lehrerin einen Moment der Ruhe genießen. Stefan (43) hält Frido auf den Schoß, die Kinder wirken aufgeweckt, offen und neugierig: „Was schreibst du denn da?“, fragt Emma.
Seit gut einem Jahr arbeitet Stefan wieder als Lehrer. Anderthalb Jahre haben sich beide frei genommen, als beide Zwillingspaare klein waren. „Das würden wir auch jederzeit wieder so machen“, meint Alix. „Wir wollten sie auch nicht zu früh in die Kita schicken.“ Mit 33 sind beide zusammengekommen. Mit 35 kamen die Mädchen, mit 40 die Jungs. „Wir haben schnell gelernt, dass wir gerne mit Kindern zusammen sind. Dass es uns etwas gibt. Nur zwei – da war mir relativ schnell klar, dass es mir nicht reichen würde“, sagt Stefan. Die 43-Jährigen haben sich an den Sonderstatus gewöhnt. Zweimal Zwillinge bringen eben ihre „spezifischen Probleme“ mit sich: Zwei Kitaplätze mussten sie gleichzeitig finden, zwei Kinder kann man wiederum nicht gleichzeitig auf dem Arm halten. Man müsse daher schnell lernen es auszuhalten, wenn ein Kind schreit. Auf jede 80. Geburt komme eine Zwillingsgeburt, sagt Alix. „Und wir haben das sogar gleich zweimal geschafft. Mein Frauenarzt meinte, das sei in seiner Praxis noch nie vorgekommen.“ Die Kinder seien aber „spontan entstanden“, sprich: nicht mit künstlicher Befruchtung.
„Gestern fragte mich ein Mann auf dem Schulweg: ‚Sind das alles deine?’ Und als ich das bejahte, klopfte er mir freundlich auf die Schulter. Das sind aber immer ausländische Mitbürger.“ Alix erlebt zwar selten Diskriminierung, merkt aber ein Fremdeln. Deutsche würden Kinder oft als Störfaktor ansehen. Da wird ein Restaurantbesuch zum Spießrutenlauf. „Du kannst vier Kinder nicht so ruhig halten wie zwei. Es sind halt keine Erwachsenen.“ Und das liebe Geld? „Mit vier Kindern gibt es oft finanziellen Knirsch. Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass es irgendwie immer geht.“
Am Anfang wollten sie sich bewusst etwas gönnen. „Jeder geht einmal im Jahr alleine reisen – das war unsere Idee. Die haben wir sehr schnell aufgegeben. Aber nicht, weil wir uns das nicht leisten konnten, sondern weil sich unsere Prioritäten einfach verschoben haben“, sagt Stefan. Als die Kinder kamen, waren beide bereit, ein völlig anderes Leben zu leben. Und siehe da: Ihr altes vermissen sie nicht.
Nach dem Mittagessen wollen die Mädchen Süßigkeiten holen. Gemeinsam gehen sie mit ihren Brüdern zum Kiosk um die Ecke. Stefan und Alix bleiben am Küchentisch zurück. Auch das gehöre dazu, einmal loszulassen. Für die Zukunft haben sie große Pläne: Sie wollen aufs Land ziehen. Ihre Kinder in der Natur aufwachsen lassen. Mit Staudämme bauen, durch den Matsch springen, den Wald erkunden. Alix nimmt ihre Kinder auch mal mit in den Schrebergarten. Dort züchtet sie Zwerghühner. Vier Hähne gibt es dort. Doch zwei werden von den Hennen nicht akzeptiert. Jetzt zum Winter droht die Schlachtung. „Ich werde die Kinder dann nicht mitnehmen, aber sie sollen erfahren, wo ihr Fleisch herkommt“, sagt Alix. Neulich habe sie es gegenüber Emma auf dem Schulweg bereits angedeutet. „Da hat sie sich auf den Bürgersteig gesetzt und gebrüllt: ‚Dann gehe ich halt nicht mehr zur Schule!“ Es kommt der Tag, an dem sich die Großfamilie von der Großfamilie trennen muss. Auch das gehört dazu.
Text: Jörg Oberwittler