Keine Grenzen – für alle

STADTGESTALTEN Berlin: Von Klicksonar bis zu taktilen Kinderbüchern – Der Verein anderes sehen e.V. eröffnet blinden Kindern neue Möglichkeiten. Ellen Schweizer und Steffen Zimmermann, die Gründer des Vereins haben eine Vision. Darin führen alle Menschen ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben in einer weitgehend barrierefreien Welt. Wie weit dieser Wunsch etwa vom Alltag eines blinden Menschen entfernt ist, erfahren die beiden fast täglich. Ihre Tochter Juli ist fünf Jahre alt und seit ihrer Geburt blind.

Die Diagnose traf das Paar damals völlig unvorbereitet. Was es bedeutet, ein blindes Kind zu haben, welche Schwierigkeiten, aber auch welche Chancen damit verbunden sind, wurde ihnen erst nach und nach bewusst.

Aber eines stand für sie von Anfang an fest: Juli sollte so viel Unterstützung wie möglich erhalten, damit sie sich in der Gesellschaft möglichst frei entfalten kann. Schnell fanden sie heraus, dass das Angebot aus Fördermaßnahmen, Beratung und Hilfsmitteln nicht ausreichte. „Man darf das nicht falsch verstehen. Natürlich gibt es unter anderem mit der Frühförderung Angebote für blinde Kinder. Aber insgesamt ist das, was gemacht wird, zu wenig.“ sagt Ellen dazu.  „Ich möchte, dass meine Tochter ihre eigenen Grenzen austesten kann und nicht durch Andere begrenzt oder behindert wird. Und wenn sie irgendwann Fahrradfahren möchte, dann soll sie das auch tun.“

Mit den Ohren sehen – Ellen und Steffen sind davon überzeugt, dass blinde Kinder früher gefördert werden müssen, um sich in der Welt der Sehenden besser bewegen zu lernen. Das bezieht ein barrierefrei geplantes städtisches Umfeld ebenso mit ein, wie die Nutzung eines Blindenstocks ab dem Kleinkindalter oder alternative Mobilitätshilfen.

Sie begannen, intensiv nach Fördermöglichkeiten zu recherchieren und stießen vor drei Jahren im Internet auf das spektakuläre Video eines Jungen, der auf der Straße mit Rollerblades zwischen parkenden Autos hindurch fuhr. Das Besondere: Der Junge war blind. Flashsonar (deutsch: Klicksonar) heißt die Orientierungs-Methode, mit der sich der Junge nahezu mühelos in der Welt der Sehenden bewegte.

Durch das wiederholte Schnalzen der Zunge werden dabei akustische Eindrücke von der Umgebung erzeugt, die eine Orientierung im Raum und sogar das Erkennen von Gegenständen ermöglicht. Da es in Deutschland aber keine Institution gab, die diese Methode verfolgte, nahmen Ellen und Steffen selbst Kontakt zu Daniel Kish auf, einem US-amerikanischen Experten für Echoortung und weltweit einzigen blinden Mobilitätstrainer. Sie luden ihn nach Deutschland ein und veranstalteten im Herbst 2011 mit ihm einen ersten Workshop in Berlin. Seither haben viele Eltern blinder Kinder, Frühförderer und Mobilitätstrainer in Workshops davon profitiert.

Zur gleichen Zeit gründeten sie auch den Verein Anderes Sehen e.V. zur Förderung eines selbstbestimmten Lebens von blinden Kindern. Dabei versteht sich das Projekt als Ergänzung zu Blindenverbänden und Angeboten des Staates, als eine Art Future-Lab oder Innovationslabor. „Dank Internet kann ich recherchieren, welche Entwicklungen auf der Welt stattfinden. Wir tragen die wichtigsten zusammen und versuchen sie nach Deutschland zu bringen.“ Wie eben Klicksonar, Blindenstöcke für Kleinkinder oder schöne taktile Kinderbücher.

Bücher für alle – Das Thema Kinderbücher liegt Ellen Schweizer besonders am Herzen. „Bücher sind so wichtig für die Entwicklung eines Kindes, aber schöne Bücher für blinde Kinder gibt es kaum.“ Jahrelang hat die Grafikdesignerin nach Kinderbüchern für ihre Tochter gesucht und knüpfte Kontakte zu Verlagen in der ganzen Welt.

Mit einem französischen Buchverlag hat sie inzwischen vier Bücher auf Deutsch produziert und verkauft sie mit Hilfe von Spendengeldern etwa für die Hälfte des Herstellungspreises an die Eltern blinder Kinder. Da die taktilen Bücher alle sehr aufwändig von Hand hergestellt werden müssen, sind sie leider teuer.

Dabei kommen gerade auch bei den sehenden Kindern in Julis Kita die Bücher besonders gut an. Sie bieten ein außergewöhnliches haptisches Erlebnis und unterscheiden sich allein schon dadurch von dem übrigen Angebot. „Ich mache Bücher, die nicht für sehende oder blinde Kinder sind, sondern für alle. Die einfach im Buchladen neben den anderen stehen und vielleicht erst wenn man sie gekauft hat fällt einem auf, dass da noch Brailleschrift dabei ist.“

Vereinsarbeit – Die gesamte Vereinsarbeit haben Ellen und Steffen in den vergangenen Jahren alleine und von Zuhause erledigt, abends, wenn Juli schläft, oder am Wochenende. Im August 2013 ist der Verein in ein schönes kleines Büro mit Blick auf den Teutoburger Platz gezogen, wo zukünftig auch ein offener Austausch mit Interessierten stattfinden soll.

Neben der Recherche nach neuen Themen möchten sie aber auch politisch aktiver werden.  „Die Zeit für das Thema Inklusion ist günstig“, sagt Ellen Schweizer, „auf allen Ebenen passiert viel. Wir sind gerade dabei, wichtige Entwicklungen mitzugestalten.“ Gerade einmal zwei Jahre ist es her, dass der Verein Anderes Sehen e.V. gegründet wurde und viele wichtige Themen wurden seither vorangetrieben.

Im Oktober 2013 erhielt der Verein den Preis „Ausgezeichnete Orte im Land der Ideen“ und war zum zweiten Mal in der engeren Auswahl des Deutschen Engagementpreises. Natürlich freuen sich Ellen Schweizer und Steffen Zimmermann über die öffentlichkeitswirksame Anerkennung, die sie dadurch erhalten. Mehr Freude würde es ihnen aber bereiten, wenn der Weg in eine vollständige Inklusion bereits geebnet wäre. Doch dazu muss es Menschen geben wie sie, die sich engagiert über vermeintliche Grenzen hinwegsetzen.

Anderes Sehen e.V. | Zionskirchstr. 73 | 10119 Berlin
www.anderes-sehen.de

Text: May-Britt Frank-Grosse