Das Leben mit Kleinkind kann ebenso wundervoll wie anstrengend sein, schließlich kommen Eltern während der Autonomiephase oft an ihre Grenzen. Wie man den Konflikten des Alltags gelassen begegnen kann, beschreiben Pädagogin Dr. Eliane Retz und Kommunikationswissenschaftlerin Christina Stella Bongertz in ihrem neuen Ratgeber „Wild Child“.
Die Autonomiephase ist eine wichtige Entwicklungsstufe im Leben eines Kleinkindes. Meist beginnt sie um das zweite Lebensjahr herum und kann sogar bis zum sechsten Lebensjahr andauern, wobei die Hochphase meistens zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr ist.
Kinder erkunden ist dieser Phase viel aktiver als zuvor ihre Umwelt, machen eigenen Erfahrungen und erleben zunehmend den Wunsch nach Abgrenzung und mehr Selbstständigkeit.
Doch sind wir mal ehrlich, so wichtig wie diese Phase für Kinder ist, so herausfordernd und stressig kann sie auch für Eltern sein. Kennen wir doch alle Situationen aus dem Alltag, die uns an die Decken gehen lassen könnten.
Die bekannte Situation ist wohl die im Supermarkt. Man will nur schnell das Nötigste einkaufen und das Kleinkind bekommt einen Wutanfall und wirft sich auf den Boden, weil es keine Gummibärchen mitnehmen darf. Oder wenn das Kind Richtung Ententeich rennt, obwohl man gerade eilig auf dem Weg zur Kita ist, den Apfel falsch schneidet oder man beim Anziehen helfen möchte.
An dieser Stelle könnte ich noch zahlreiche Beispiele aufzählen, aber ich bin mir sicher, ihr wisst genau, was ich meine.
Nun stellt sich nur die Frage:
Wie kann man mit diesen Situationen angemessen umgehen und solche Konflikte liebevoll und gelassen lösen?
Genau dieser Frage stellen sich Pädagogin, systemische Beraterin und Mutter von zwei Kindern Dr. Eliane Retz und Kommunikationswissenschaftlerin, Buchautorin und Journalistin Christiane Stella Bongertz in ihrem neuen Buch Wild Child – Entwicklung verstehen, Kleinkinder gelassen erziehen, Konflikte liebevoll lösen. Anhand konkreter Alltagssituationen beschreiben die Autorinnen wie Eltern von Kleinkindern mit Wutausbrüchen umgehen, weniger schimpfen, trotzdem Grenzen setzen und die Autonomie sowie die Bindung stärken.
Euer neues Buch nennt sich Wild Child, was versteht ihr darunter?
Stella: Das „Wild“ in „Wild Child“ steht für Authentizität und Unverfälschtheit, nicht unbedingt für vordergründig „wildes“ Verhalten. Kleinkinder sind ohne Kalkül, sie folgen dem evolutionären „Programm“, das sie einerseits dazu bringt, sich der Bindung zu Mama und Papa zu versichern und andererseits ab etwa anderthalb Jahren zu beginnen, nach Autonomie zu streben, um eines fernen Tages selbständig ohne die Eltern leben zu können.
Darum werden auch im sozialen Rahmen eher zurückhaltendere, introvertiertere Kinder in bestimmtem Rahmen „wild“: Auch sie bekommen Wutausbrüche und testen Grenzen – nämlich vor und bei den Personen, von denen sie sich bedingungslos geliebt fühlen, in der Regel sind das die Eltern. Dass sich die Kinder das trauen, ist etwas Gutes und notwendig für eine gesunde psychische Entwicklung.
Ihr sprecht das Thema bindungsorientierte bzw. bedürfnisorientierte Erziehung an. Welche Missverständnisse kommen dabei häufig auf und was meint ihr damit?
Eliane: Vielen ist nicht bewusst, dass „bindungsorientiert“ nicht „grenzenlos“ bedeutet. Bindungsorientierte Erziehung ist kein antiautoritäres Konzept, denn natürlich müssen Eltern für schützende Grenzen einstehen. Oder auch eigene Bedürfnisse kommunzieren und die Kinder für die Bedürfnisse von anderen Mitmenschen sensiblisieren.
Aber eine Bindungsorientierung bedeutet, dass man Erziehung nicht als einen Machtkampf betrachtet, sondern jeden Tag erneut dazu bereit ist, seinem Kind zuzuhören und gemeinsam mit ihm nach Lösungen zu suchen, wenn es Konflikte gibt – angepasst an den kognitiv-emotionalen Entwicklungsstand. Und es bedeutet auch, dass man um die wichtige Bedeutung von frühen Bindungserfahrungen weiß, denn hier haben wir verlässliche und wichtige Befunde der Bindungsforschung.
Warum ist Gelassenheit in der Kindererziehung so wichtig?
Stella: Erst mal: Gelassenheit heißt nicht, immer zentriert wie ein Zen-Mönch durch die Gegend zu laufen. Sondern eher, gelassen damit umzugehen, wenn das mit dem Zen leider gerade nicht geklappt hat. Man hat etwa die Nerven verloren und rumgeschrien, weil das Kind trotz „Stopp“-Rufen ohne Regenklamotten in die Pfütze gehüpft ist.
Sicher, Ausflippen ist nicht optimal, aber kein Beinbruch, wenn man es den Großteil der Zeit eben anders hält. Kinder kommen mit einzelnen Ausreißern klar! Wenn man sich das vor Augen führt, kommt man schneller wieder vom Stresspeak runter, kann das Kind in den Arm nehmen und sagen: „Entschuldige, dass ich so laut geschrien habe, ich war gerade sehr gestresst.“
So eine Botschaft kommt auch schon bei ganz kleinen Kindern rüber, selbst wenn sie nicht jedes Wort verstehen. Sobald sich dann alle beruhigt haben, kann man sehen, wie man aus den nassen Sachen rauskommt und die Situation noch mal ohne Vorwürfe nachbesprechen.
Kasteien sich Eltern aber jetzt, weil sie alles hundert Prozent machen wollen, entfernen sie sich von ihren Kindern, sind nur mit sich selbst beschäftigt und nicht als Bindungsperson verfügbar – und das wäre wirklich ungünstig. Dabei ist es unmöglich, alles nur richtig zu machen und das ist auch gut so. Nur so erleben die Kinder, dass man nicht perfekt sein muss, um geliebt zu werden. Eltern tun also gut daran, sich selbst nicht so unter Druck zu setzen.
Wie schaffen es Eltern, in stressigen Situation gelassen zu bleiben (und mit dem Gefühlsausbruch des Kindes angemessen umzugehen)?
Eliane: Allein das Wissen, dass das Kind sich nicht absichtvoll „schwierig“ verhält, kann sehr hilfreich sein: Kleine Kinder, die starke Gefühle zeigen, sind nicht gegen ihre Eltern. Die Kinder werden von ihren eigenen Gefühlen überwältigt und brauchen dann ganz besonders ihre Eltern, um sich wieder beruhigen zu können.
Viele Kinder möchten bei einem akuten Wutausbruch zunächst keinen Körperkontakt. Das sollten Eltern respektieren. Wichtig ist, dass man dennoch beim Kind bleibt, nicht schimpft, denn dies steigert die Aufregung noch zusätzlich. Wenn die Wut dann allmählich abebbt, können Eltern mit dem Trösten und Beruhigen beginnen – Kinder brauchen dann ihren sicheren Hafen, anstatt mit Liebesentzug und Ignorieren bestraft zu werden.
Gefühlsausbrüche in der frühen Kindheit sind normal. Dennoch ist es wichtig, sich Gedanken zu machen, warum das Kind manchmal oder häufig so heftig reagiert. Vielleicht braucht es im Alltag einfach mehr die Möglichkeit kleine, eigene Entscheidungen treffen zu dürfen, etwa bei der Kleiderausswahl. Oder es schläft zu wenig und kann dann Eindrücke nicht mehr gut filtern, was dann zu starken Stimungsschwankungen führen kann.
In eurem Buch nehmt ihr eure Leser:innen mit auf eine Gedankenreise in die eigene Kindheit. Warum ist es bedeutsam die eigene Bindungsgeschichte zu reflektieren?
Eliane: Wir alle sind durch unsere frühen Bindungserfahrungen geprägt. Diese können positiv-stärkend sein oder wir sind noch sehr verstrickt und traurig. Oder haben wir das Gefühl „da ist eigentlich ganz viel Leere“ und nichts, auf das man zurückgreifen kann.
Bindungsstile werden von einer Generation an die nächste weitergegeben, was bei bindungssicheren Familien natürlich wunderbar ist, bei unsicheren Bindungsmustern dagegen dysfunktional. Deshalb hat jede neue Generation die große Chance etwas im bisherigen Familiensystem positiv zu verändern – was so betrachtet doch eine ganz wunderbare Sache ist.
Wie schafft man es, alte Verhaltensmuster zu durchbrechen?
Stella: Da helfen vier Schritte: Erst mal sollte man identifizieren, was die typischen Stresssituationen sind, in denen man in alte Muster zurückfällt. Man sollte dabei wissen: Man macht das, weil das Vorteile hat. Oft ist das die schnelle Wirksamkeit.
Beispiel: Das Kind will den Spielplatz nicht verlassen, Mama verspricht ein Eis, wenn es kommt. Das Kind will das Eis und kommt. Die Situation ist vordergründig „gelöst“. Doch das Kind lernt: Wenn ich kooperiere, bekomme ich eine Belohnung. Sonst lernt es nichts. Nichts darüber, warum man nicht ewig auf dem Spielplatz bleiben kann, es gab keine Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und auch nicht mit denen des anderen. Und es fordert jetzt jedes Mal ein Eis.
Hier sollte man sich dann einmal in Ruhe hinsetzen und überlegen, wie man die Situation bindungs- und bedürfnisorientiert anders lösen könnte. Dazu gibt es in unserem Buch sehr viele Anregungen. Diese Alternativreaktion kann man zunächst aufschreiben. Dadurch prägt man sie sich bereits etwas ein. Dann kann mam sie visualisieren, also im Geiste Schritt für Schritt durchgehen – so übt man sie mental ein und hat sie schneller parat. Sobald sich dann wieder eine typische Situation anbahnt, kann man sich bewusst für die neue Reaktion entscheiden. Mit der Zeit wird so das alte Muster „überschrieben“.
Was sollte man tun, wenn man sich überfordert fühlt?
Stella: Mehrmals ganz tief in den Bauch atmen, sodass die Bauchdecke sich hebt und senkt. Das klingt banal, ist es aber nicht. Bei tiefer Bauchatmung wird der Vagusnerv, der sogenannte Ruhenerv des autonomen Nervensystems aktiviert. Negatives Denken wird dann unmöglich, das Denken wird unmittelbar in lösungsorientiertere Bahnen gelenkt, Stress wird verringert und man kann die Situation viel besser konstruktiv, liebevoll und empathisch lösen.
Außerdem kann man sich fragen: Was kann schlimmstenfalls passieren? Oft ist das Schlimmste, dass man irgendwohin zu spät kommt, die Nachbarin den Kopf über heutige Eltern schüttelt oder das Kind eben keine Erbsen isst – so what?
Wie schaffen es Eltern im Alltag die Bindung zu ihrem Kind zu stärken?
Eliane: Da kleine Kinder ihre Eltern so oft brauchen, gibt es auch unzählige Gelegenheiten, die Bindung zu stärken. Ein Baby braucht viel Körperkontakt, möchte getragen werden, es liebt die Gesichter der Eltern und möchte sich auf seine Weise mit ihnen „unterhalten“. Wenn Eltern die Signale ihres Babys überwiegend richtig deuten, darauf prompt und angemessen reagieren, dann kann eine sichere Bindung wachsen.
Später, im Kleinkindalter, geht es um die Pflege des Bindungsbands, das bereits gewachsen ist. Indem man dem Kind zuhört, sich mit ihm freut, ihm vorliest, feinfühlig-geduldig pflegerische Tätigkeiten übernimmt. Indem man bei Gefühlsstürmen der Fels in der Brandung ist und dem Kind die Gewissheit von bedingungsloser Liebe vermittelt: Ich hab dich lieb, immer, auch dann, wenn du „anstrengend“ bist.
Wenn Eltern Entsprechendes umsetzen, mit allen Höhen und Tiefen, die es dabei geben kann, ist das sehr bindungsstärkend.
Über das Buch „Wild Child“
Wild Child ist ein spannender Ratgeber der in jedem Bücherregal seinen Platz finden sollte. Die Autorinnen schaffen es in verständlicher Sprache fachlich fundiertes Wissen zu vermitteln und Eltern verschieden Werkzeuge anhand von Alltagssituationen an die Hand zu geben, ohne mit dem erhobenen Zeigefinder zu tadeln.
Besonders toll an Wild Child: Die Kapitel sind mit einer ungefähren Lesedauer gekennzeichnet, sodass man schnell einschätzen kann, für welches Kapitel man gerade Zeit hat – denn als Eltern eines Kleinkindes ist die Zeit zum Lesen häufig eher knapp.
Eliane Retz, Christiane Stella Bongertz: Wild Child – Entwicklung verstehen, Kleinkinder gelassen erziehen, Konflikte liebevoll lösen, 384 Seiten, Piper Verlag, 02/2021, 18,00 Euro. Bei eurem Lieblingsbuchladen vor Ort, bei genialokal*, dem Onlinehandel der Buchhandlungen, oder bei Amazon* bestellbar.