Im Ernstfall möchten wir unsere Kinder natürlich gut versorgt wissen, doch die Entwicklungen im Gesundheitssystem schlagen sich auch in der Versorgungslage kranker Kinder nieder, wie uns Kinderarzt Dr. med. Alexander Rosen im Interview berichtet.
Dr. Alexander Rosen ist Kinderarzt in eigener Praxis im Norden von Berlin. Vor seiner Niederlassung leitete er vier Jahre lang die größte Kindernotaufnahme Berlins an der Charité.
In seiner Freizeit engagiert er sich bei den Ärzt:innen in Sozialer Verantwortung (IPPNW) und der medizinischen Flüchtlingshilfe. Kinderarztpraxis Dr. Rosen, Knappenpfad 18, 13465 Berlin-Frohnau, kinderarzt-rosen.de
Wie ist die aktuelle Situation der Notfallversorgung von Kindern in Berlin?
Das kommt ganz darauf an, welche Aspekte man betrachtet. Die Dichte an Kinderkrankenhäusern, Kindernotdienstpraxen und Kindernotaufnahmen ist in Berlin vermutlich die höchste in Deutschland. Auch die Wartezeit auf einen Rettungswagen ist verhältnismäßig gering und die Verfügbarkeit exzellenter medizinischer Versorgung für Kinder sehr hoch.
Gleichzeitig mangelt es seit Jahren an belegbaren Betten für schwer kranke Kinder. Ich meine damit nicht physisch die Betten, die in den Kliniken stehen. Davon gäbe es genug. Aber mit einem Bett ist es nicht getan. Man braucht auch das Pflegepersonal, um dieses Bett belegen zu können. Leider ist eben dieses dringend benötigte Personal in den vergangenen Jahrzehnten auf verantwortungslose Art heruntergefahren worden – um Personalkosten zu sparen und mehr Profite einzutreiben.
Wie hat sich die Pandemie bislang darauf ausgewirkt?
Durch die Corona-Maßnahmen und den Lockdown ist der Bettenmangel vor allem in der Pädiatrie kurzfristig in Vergessenheit geraten – es gab schlicht und einfach weniger Infekte. Aber schon seit dem Spätsommer dieses Jahres sind wir wieder da, wo wir vor der Pandemie waren: im akuten Mangelzustand, was die Möglichkeiten der stationären Versorgung kranker Kinder angeht.
Und schlimmer noch: durch die Pandemie haben die Krankenhäuser weiter Personal verloren und Verluste gemacht, was den wirtschaftlichen Druck noch erhöht hat. Die verbleibenden Pflegekräfte fühlen sich zu Recht nicht wertgeschätzt, denn ihre zum Teil übermenschlichen Anstrengungen und ihr Engagement im Rahmen der Pandemiebekämpfung wurden weder mit einer Gehaltserhöhung noch mit besseren Arbeitsbedingungen belohnt. Es wurde, wie so oft, in der Not viel versprochen, doch am Morgen danach war von den vollmundigen Versprechen nicht mehr viel übrig.
Daher sind aktuell mehr Betten in den Kinderkliniken gesperrt als je zuvor – wir sprechen von rund 300 Betten, die zwar physisch in Berliner Kinderkliniken stehen, aber nicht belegt werden können, weil es keine Pflegekräfte gibt, die die Kinder versorgen können. Die Folge? Kranke Kinder werden nach Hause geschickt, die früher zur Sicherheit aufgenommen worden wären. Alternativ werden sie nach Neuruppin, Cottbus oder Brandenburg an der Havel verlegt oder verweilen lange Zeit in den Notaufnahmen, bis endlich ein Bett frei wird, weil ein:e andere:r Patient:in frühzeitig entlassen wurde.
Die aktuelle Situation in den Kinderkliniken ist ein Armutszeugnis für unser Gesundheitswesen. Die deutschen Kliniken steuern aktuell auf eine große Belastung zu: die zu erwartende Grippe- und Coronawelle trifft diesen Winter auf ein durch Pandemie und Pflegemangel ausgezehrtes Krankenhauswesen. Dies wird nicht nur Erwachsene, sondern in ganz besonderem Maße auch die Kinder betreffen.
Wie konnte es so weit kommen?
Die Probleme, die wir aktuell sehen, zeichneten sich seit vielen Jahren ab. Schon vor 15 Jahren haben wir Kinderärzt:innen genau vor dieser Entwicklung gewarnt: die zunehmende Privatisierung der Kliniken, der steigende wirtschaftliche Druck in der Krankenversorgung, die Profitgier einiger Klinikbetreiber und die Einführung der Fallpauschalen haben die Kinderheilkunde besonders hart getroffen, denn mit kranken Kindern lässt sich im Gesundheitswesen nur schwerlich Geld verdienen.
Die Folge dieser profitorientierten Umwälzungen im Gesundheitswesen waren Schließungen von „unrentablen“ kleineren Kinderstationen auf dem Land, Privatisierungen und eine zunehmende Fokussierung auf „gewinnbringende“ Eingriffe. Vor allem aber wurde landauf, landab Pflegepersonal gezielt abgebaut.
Geld, das eigentlich für die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung kranker Kinder zur Verfügung gestellt wurde, wurde so über viele Jahre ganz bewusst aus dem Gesundheitswesen in die Taschen einiger Firmen und Individuen umgeleitet: Geschäftsführer:innen, Vorstandsmitglieder und Aktionär:innen, aber auch Klinik- und Pflegedienstleitungen, die für den Personalabbau satte Provisionen erhielten. Und all dies geschah mit großer politischer Rückendeckung, beispielsweise aller Gesundheitsminister:innen seit 2009, die ein profitorientierteres Gesundheitswesen anstrebten.
Was sind die Alarmsignale, wann sollten Eltern sofort eine Notaufnahme aufsuchen oder den Notarzt rufen?
Eltern können oftmals nicht sicher unterscheiden, ob es sich bei einem schweren Husten, einem hohen Fieber oder einer Bewusstlosigkeit um einen relevanten Notfall oder um eine harmlose Erkrankung handelt. Dies ist umso schwieriger, je jünger das Kind ist.
Daher würden wir als Kinderärzt:innen Eltern immer dazu ermutigen, sich auf ihren elterlichen Instinkt zu verlassen und im Fall einer Situation, die sie nicht mehr beherrschen können, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die beste Möglichkeit dazu bietet die eigene Kinderarztpraxis, bzw. die Hotline der Kassenärztlichen Vereinigung, die 116117. Hier wird man fachlich kompetent beraten und informiert, ob man mit dem Kind in eine Notaufnahme muss oder nicht.
In potentiell lebensbedrohlichen Situationen, also wenn ein Kind bewusstlos aufgefunden wird, blau anläuft, unstillbar blutet oder einen schweren Unfall hatte, sollte man immer direkt die 112 anrufen – sicher ist sicher.
Falls man mit Kindern in die Notaufnahme muss: Was können Eltern tun, um den Aufenthalt dort zu verkürzen?
Wenn zum Beispiel am Freitagabend oder mitten in der Nacht eine besorgniserregende Situation entsteht, sollte man sich immer fragen, ob es Sinn macht, sofort eine Notaufnahme aufzusuchen oder ob es nicht auch reichen würde, am nächsten Tag zu kommen.
Gerade in den späten Abendstunden sind die Notaufnahmen oft sehr voll mit schwer kranken Kindern und es kann passieren, dass man viele Stunden warten muss, wenn die Erkrankung des Kindes keinen akuten Notfall darstellt. Vormittags ist die Lage in den Notaufnahmen meist deutlich überschaubarer, es stehen mehr Ressourcen zur Verfügung und die Wartezeiten sind deutlich kürzer.
Nicht zuletzt gibt es an fünf Standorten in Berlin die KV-Notdienstpraxen, an denen Kinderärzt:innen die Notaufnahmen zusätzlich entlasten. Hier sind die Wartezeiten oft recht kurz. Daher mit Ohrenschmerzen freitagabends lieber einmal Ibuprofen zur Nacht geben und am Folgetag eine Notdienstpraxis aufsuchen als die halbe Nacht mit einem leidenden Kind in der Notaufnahme des Krankenhauses zu sitzen.
Wichtig ist auch, selbst im Notfall, an notwendige Unterlagen zu denken, wenn man eine Notaufnahme aufsucht, also z.B. die Versichertenkarte, Notfallausweise, Medikamentenlisten oder Arztbriefe von vorherigen Aufenthalten – so kann sichergestellt werden, dass keine Informationen verloren gehen und das Kind die bestmögliche Behandlung erhält.
Sind aktuell mehr Kinder als normalerweise um diese Jahreszeit krank?
Durch den Lockdown und die zahlreichen Hygienemaßnahmen im vergangenen Winter war die Zahl der Infektionen in der Gesellschaft so niedrig wie vermutlich niemals zuvor. Jährliche Infektionswellen mit Influenza oder RS-Viren sind gar völlig ausgefallen. Dies entlastete die Krankenhäuser und Arztpraxen und ermöglichte es, Ressourcen für die Behandlung von COVID-19-Erkrankten frei zu machen.
Seitdem im Frühsommer ein Großteil der Hygieneregeln gefallen sind und es wieder deutlich mehr Kontakte gibt, breiten sich die Viren relativ ungehemmt aus. Dazu kommt, dass die Immunsysteme alle ziemlich aus der Übung waren durch die lange Inaktivität. Das hat den Effekt nochmal verstärkt.
Daher haben wir diesen Sommer und Herbst eine ungewöhnlich hohe Infektlast gesehen, also viele Kinder und Erwachsene gehabt, die an Atemwegsinfekten oder Durchfallerkrankungen leiden, oft in Form von Ketteninfektionen über mehrere Wochen am Stück.
Woran erkennt man, ob das Kind an RSV erkrankt ist, worauf sollten Eltern dabei achten?
RS-Viren verursachen für den Großteil der Bevölkerung jedes Jahr recht harmlose Atemwegserkrankungen. Für Frühgeborene und kleine Kinder mit chronischen Atemwegserkrankungen, Herzfehlern oder Immundefekten kann eine RSV-Infektion jedoch sehr gefährlich sein. Daher ist es wichtig, diese speziellen Gruppen davor zu schützen. Wir Kinderärzt:innen tun dies jedes Jahr durch passive Immunisierung der Hochrisikogruppen, die monatlich wiederholt werden müssen.
Für den Rest der Bevölkerung gilt, wie bei jeder anderen Atemwegserkrankung auch: Wenn das Kind anhaltend und trotz adäquater Fiebersenkung zu schnell atmet, Einziehungen beim Atmen über oder unter den Rippen hat, blaue Lippen bekommt oder das Trinken einstellt, sollte dringend ärztliche Hilfe aufgesucht werden. Eine ärztliche Untersuchung und in manchen Fällen auch ein spezieller RSV-Test kann dann feststellen, ob es sich um eine gefährliche Infektion handelt oder nicht.
Wie kann man das Immunsystem von Kindern stärken?
So plump das klingt: das beste Training für das Immunsystem ist es, möglichst viele Infektionen durchzumachen. Eltern kennen das: Zu Beginn der Kita-Zeit ist das Kind jeden Winter praktisch Monate am Stück dauerkrank, aber schon nach ein bis zwei Jahren ist das Immunsystem so stark und erfahren, dass das Kind deutlich seltener erkrankt. Impfungen haben übrigens einen ganz ähnlichen, immunstärkenden Charakter: Man trainiert das Immunsystem, ohne dass das Kind potentiell gefährliche Erkrankungen selbst durchmachen muss.
Darüber hinaus ist es natürlich wichtig, dass der Körper ausreichend Energie hat, um Infekte abzuwehren. Daher ist ausreichend Schlaf und eine ausreichende Kalorien- und Flüssigkeitszufuhr für das Immunsystem wichtig. Bis zum zweiten Lebensjahr wird für alle Kinder die Supplementierung von Vitamin D empfohlen, welches bei zahlreichen Immunprozessen eine Rolle spielt und auch viele ältere Kinder profitieren von Vitamin D als Nahrungsergänzung, da wir einen hohen Grad an Vitamin-D-Mangel in der Bevölkerung haben.
Darüber hinaus sind spezielle Diäten, Vitaminpräparate oder teure Nahrungsergänzungen aus der Apotheke hingegen unnötig: Bei einer gesunden, ausgewogenen Ernährung erhält das Immunsystem alles, was es benötigt.
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