© Hendrik Thiele, Junimond Bestattungen

Victors Fall

Triggerwarnung – Bevor ihr diesen Artikel lest, möchten wir euch darauf hinweisen, dass er den Tod eines Jugendlichen und Suizid thematisiert. Falls ihr auf diese Themen sensibel reagiert, lest ihn bitte nicht oder in Gesellschaft einer vertrauten Person, die euch Halt gibt und mit der ihr euch darüber unterhalten könnt.

Langjährige HIMBEER-Leserinnen werden Victor in unseren Geschichten bestimmt schonmal gesehen haben, mein Jüngster ist mitten in unsere HIMBEER-Gründungszeit geboren. Im Mai 2025 hat er im Alter von 15 Jahren Suizid begangen. Für uns als Familie kam das aus heiterem Himmel, wir hätten es nie für möglich gehalten.

Meine Motivation, darüber zu reden, im Privaten und auch öffentlich, ist vielschichtig. Wie den allermeisten Gesprächspartner:innen, mit denen ich nach Victors Tod geredet habe, war mir auch mir nicht bewusst, dass Suizid inzwischen die häufigste Todesursache für Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland ist.

Zudem halte ich es grundsätzlich für falsch, diese Themen zu tabuisieren und bin der Meinung, dass es mit zu Victors Tod geführt hat, dass nicht genügend darüber geredet und aufgeklärt wird. Und ich glaube, dass ich hellhöriger gewesen wäre, wenn ich mal eine Geschichte wie Victors gehört oder gelesen hätte.

Auch ich war geprägt von einem Bild suizidgefährdeter Jugendlicher, das so gar nicht auf meinen sozial gut eingebundenen, geliebten, klugen und von außen betrachtet konfliktfreien Sohn zutraf, den ich für einen ganz normalen Teenager hielt. Mit dem ich eine innige Beziehung hatte.

Es ist verletzend für Betroffene mit Aussagen und Haltungen wie „Ich hätte das gemerkt, ich kenne doch mein Kind.“ konfrontiert zu werden. Ich möchte anderen Eltern natürlich keine Angst machen, aber ich musste schmerzhaft lernen, dass es nicht so selten ist, dass die Nahestehendsten nichts merken.

Oft öffnen sich suizidale Jugendliche nur einzelnen Vertrauten mit der Bitte, dass es geheim bleibt. Eine solche Situation kann diese Vertrauten überfordern, in Victors Fall haben seine Freund:innen aber richtig gehandelt, die Hilfe kam leider trotzdem nicht an.

Reden hilft, Suizide zu verhindern

Meine und die Bitte von Victors Freund:innen lautet: Sprecht mit euren Kindern darüber, dass sie auf ihre Mitmenschen achten und Hilfe holen, bis sie ankommt. Wer im Gedenken an Victor Gutes tun möchte, kann sich an den Schulen für bessere Präventionsprogramme einsetzen, da liegt meines Erachtens einiges im Argen.

Fragt in euren Schulen nach, wie die Themen mentale Gesundheit und Suizid dort behandelt werden, ob es Präventionsprogramme gibt, ob die Schulsozialpädagog:innen und das Kollegium dafür ausgebildet, sensibilisiert sind.

Wie Begleitet Man Jugendliche Nach Dem Suizid Eines Freundes? Sind Eure Schulen Dafür Richtig Vorbereitet?
Wie begleitet man Jugendliche nach dem Suizid eines:einer Mitschüler:in? Sind eure Schulen dafür richtig vorbereitet? © Hendrik Thiele, Junimond Bestattungen

Und nicht nur, ob es Präventivprogramme gibt, sondern auch einen Plan, wie die Schulgemeinschaft damit umgeht, wenn es zu einem Suizid kommt. Wie die Freund:innen und Mitschüler:innen auch nach der ersten Krisenreaktion angemessen in der Trauer und bei der Konfrontation mit so einem tragischen Tod begleitet werden können.

Wir sind noch in dem Prozess aufzuklären, was im Vorfeld von Victors Suizid falsch gelaufen ist, was man aus seinem Fall lernen kann und muss, um andere Jugendliche zu schützen, daher kann ich auf die genauen Abläufe jetzt noch nicht näher eingehen.

Hier veröffentliche ich meine Trauerrede, die ich bei seiner Beerdigung am 05. Juni 2025 in der Immanuelkirche vor annähernd 500 Leuten gehalten habe. Für die Anteilnahme an diesem Tag und seither möchte ich auch hier nochmal von Herzen bedanken, es bedeutet mir viel. Der besseren Lesbarkeit halber sind Zwischenüberschriften eingefügt, die es in der Originalrede in der Kirche nicht gab.

Meine Trauerrede nach Victors Suizid

Victors Tod schmerzt uns als engste Familie, unsere Familien und Freundeskreise, seine Freund:innen und Klassenkamerad:innen, in besonderer Form die Schicksalsgemeinschaft dieser Nacht vom 9. auf den 10. Mai und darüber hinaus so viele weitere Menschen.

Tw: Suizid Eines Jugendlichen. Warum Reden Und Enttabuisieren So Wichtig Ist
© Hendrik Thiele, Junimond Bestattungen

Die Anteilnahme ist enorm und bedeutet mir, bedeutet uns viel. Wir sind als Familie zusammengerückt. Sein Vater, seine Geschwister Carla, Gregor, Rosa und ich gehen unterschiedlich, aber gemeinsam durch die Trauer. Es gibt dabei kein Richtig oder Falsch, keine Worte werden diesen Emotionen gerecht. Und doch hilft es mir gegen die Sprachlosigkeit zu reden, reden, reden. Und jedes Gefühl zuzulassen.

Schönes im Schlimmsten

Ich wusste schon vorher zu schätzen, dass ich großartige Kinder, Freund:innen und das beste Team der Welt bei HIMBEER habe, aber wie wir jetzt gehalten und unterstützt werden, ist nicht selbstverständlich. Und so absurd es klingen mag, gab es in all dem Schrecklichen glückliche Fügungen und Begegnungen.

Mein Baby ist tot. Diese allerschlimmste Nachricht ist in dem Moment in meinem Bewusstsein angekommen, als der Polizeibeamte sie mir überbrachte. Wie zugewandt, wie sehr er mir dabei als Mensch begegnet ist, rechne ich ihm hoch an.

Victors Suizid löste Schockwellen aus

In dieser Nacht hat Christian Leppler, der Leiter der Notfallseelsorge Berlin-Brandenburg, den Einsatz übernommen. Er war vor allem in den ersten Stunden und Tagen und ist mir seither eine wichtige Stütze. Von ihm stammt das Bild eines Erdbebens für Victors Tod, der Schockwellen bis in weit entfernte Regionen ausgelöst hat und Menschen nah und fern erschüttert. Und ich kann sagen: Es gab Vorbeben, es gibt einige Nachbeben und den dringenden Wunsch nach besseren Seismographen.

Hendrik Thiele von Junimond hat uns nicht nur bei der Organisation dieser Trauerfeier und der Beerdigung unterstützt, sondern er ist auch der Mensch, der sich um Victor nach seinem Tod gekümmert hat. Ab dem Zeitpunkt, als Victors Körper nach zehn langen Tagen endlich aus der Rechtsmedizin in Hendriks Obhut kam, habe ich mich wohler gefühlt.

Aber ich wusste nicht nur Victor geborgen bei ihm, auch für mich hat er eine wichtige Bedeutung. Wie eine gute Hebamme mit ihrem Erfahrungsschatz hilft, im Leben mit Baby anzukommen und dabei die individuellen Bedürfnisse im Blick hat, so begleitet mich Hendrik im Loslassen meines Kindes. Ihm verdanken wir auch diesen schlicht schönen Sarg, ein Unikat, das so gut zu uns als Familie, so gut zu Victor passt, der selbst ein Auge für Design hatte.

Obwohl wir vorher keinen Kontakt zu ihr hatten, ist Pastorin Eva Finkenstein zu einer wertvollen Gesprächspartnerin für uns geworden, die uns auch den Abschied von Victor hier in der Immanuelkirche ermöglicht.

Der Junge vom Kollwitzplatz

Man wird es bei der Beisetzung nicht so gut erkennen können, wenn wir mit vielen Menschen dort sind, aber Victors letzte Ruhestätte ist ein idyllischer friedvoller Ort, mitten im Kiez, wo er sein ganzes Leben verbracht hat. Er ist zu Hause am Kollwitzplatz – dort geboren und gestorben. Es macht mich froh, dass er in unserer Nähe bleibt.

Victors Grab Ist Ein Wichtiger Ort
© Anja Ihlenfeld

Es ist anders als bei der Beerdigung eines Erwachsenen, der schon einen Großteil seines Lebens gelebt hat. Victor stand am Anfang seines Erwachsenwerdens. Man sagt es so dahin, dass dieses Alter vulnerabel ist, dass sich das Gehirn neu verschaltet, die Hormone wüten, alles so irre intensiv sein kann, wenn gleichzeitig die Fähigkeiten, negative Gefühle und Erlebnisse verarbeiten und darüber hinweg kommen zu können, noch nicht gänzlich ausgebildet sind.

Dies gilt in besonderem Maße für Victor, der nie in ernsten Konflikten mit uns oder irgendjemandem stand, der noch keine Liebesbeziehung gelebt hatte. Dass er uns seine inneren Kämpfe nicht hat sehen lassen, dass wir sie nicht erkannt haben, obwohl wir uns so nah waren, schmerzt immens. Und doch passt es zu ihm, der uns keine Sorgen bereiten wollte.

Victors Freund:innen sind bemerkenswert

Ich möchte das Wort vor allem an seine Freund:innen richten. Ihr habt einige von ihnen eben erlebt (Anmerkung: Vier seiner engsten gleichaltrigen Freund:innen haben bei der Trauerfeier ihre eigenen, unfassbar berührenden Reden vor der gesamten Trauergesellschaft gehalten). Ich habe es in den letzten Wochen oft erzählt, ihnen persönlich gesagt und möchte es auch hier vor der ganzen Trauergemeinde betonen, wie tief beeindruckt ich von diesen jungen bemerkenswerten Menschen bin.

Am Tag nach Victors Tod – ironischerweise am Muttertag – waren sie stundenlang bei mir zu Hause, haben jedes Gefühl und jeden Gedanken gezeigt und ausgesprochen, sich gegenseitig und damit auch mir Halt gegeben. Wir stehen seither in engem Kontakt und es ist schön, diesen Teil von Victors Leben außerhalb der Familie besser kennenzulernen.

Maja, Minou, Samu, Basti, Benni, Kiki, Levi, Paul, Rufus … ich kann euch jetzt gar nicht alle aufzählen … ihr wisst: Meine Tür und mein Ohr stehen euch immer offen. Wir alle vermissen Victor furchtbar. Trauer kommt in Wellen. Um im Bild des Erdbebens zu bleiben – es wird weiterhin Nachbeben geben, kleine, große, nicht immer vorhersehbar, die Tektonik bleibt in Bewegung. Was ich damit sagen will: Es wird uns alle noch lange beschäftigen, diesen Verlust zu verarbeiten.

Ich wünsche mir, dass ihr dabei in und außerhalb der Schule gut begleitet werdet. Scheut euch nicht, jederzeit – auch noch in Monaten – zu mir zu kommen, ich bin für euch da. Victors Zimmer ist für einige von uns ein Raum, in dem wir uns ihm nah fühlen können. Und dann – bitte – genießt das Leben für Victor mit. Ich weiß: Ihr bewahrt ihn im Herzen.

Achtet aufeinander. Seid gut und gnädig zueinander und zu euch selbst. Ihr habt alles richtig gemacht. Versäumnisse gab es auf Seiten der Erwachsenen. Dies gilt es aufzuarbeiten und daraus zu lernen. Die Anteilnahme ist groß, aber verständlicherweise auch die Angst anderer Eltern, wie man es erkennen und verhindern kann, dass ein junger Mensch diesen Schritt geht und sich selbst das Leben nimmt.

Über Victor reden

Ich wünsche mir aber, dass wir heute nicht so viel über seinen Tod reden, sondern über Victor, über Victors Leben. Dass wir uns an die schönen, lustigen, verbindenden Momente mit ihm erinnern.

Ich muss nicht alles wiederholen, was schon über Victor gesagt wurde, nur so viel aus meiner Sicht: Unser Sohn war ein kluger Kopf, ein tiefgründiger Denker, ein vielseitig interessierter, unglaublich empathischer Typ und er verfügte über einen richtig guten, trockenen Humor, mit dem er uns oft zum Lachen gebracht hat.

Ihn und mich verband viel mehr als unsere gemeinsame Fußballleidenschaft. Mein Jüngster, der sich im Gegensatz zu seinen Geschwistern deutlich später nur widerwillig abstillen ließ und jahrelang sehr eng an mir war, wurde groß. Er wäre der Größte von uns geworden, körperlich auf alle Fälle.

Auch Trotz Inniger Beziehung Kann Man Manchmal Nicht Ahnen, Welche Gedanken Rund Um Suizid Teens In Sich Verbergen.
© Anja Ihlenfeld

Victor war ein intelligenter Gesprächspartner mit einem ganz eigenen Blick auf die Welt und interessanten Gedanken dazu. Rechtsruck, Rassismus, die Vereinfachung komplexer Themen auf populistische Phrasen, die Geschichtsvergessenheit, all diese Tendenzen, die sich aktuell breitmachen, haben ihn entsetzt, er hielt aber Bildung für den Schlüssel, dagegenzuhalten. Und er war stolz auf mich, wenn ich mich politisch oder publizistisch engagierte.

Wir alle in der Familie teilen die Einschätzung, dass er der Klügste von uns war, ich habe ihn schon als Kleinkind „Professore“ genannt. Und doch hat er in dieser Nacht die dümmste – unumkehrbare – Entscheidung getroffen. Für uns völlig unerwartet und nach allem, was wir wissen, in dieser Nacht auch für ihn.

Victor hatte Pläne für den nächsten Tag, den Sommer, die Oberstufe und die kommenden Jahre. Er hatte die besten Voraussetzungen für ein erfülltes, wirkungsvolles Leben und noch sehr viele Erfahrungen zu machen. Ich hätte ihn so gerne Weiterwachsen sehen.

Der Schmerz ist unermesslich, es fühlt sich tatsächlich so an, als sei mir ein Stück meines Herzens herausgerissen worden. Aber neben all dem Schmerz fühle ich keine Wut, nur tiefe warme Liebe und Lebenswillen.

Es gab in den vergangenen knapp vier Wochen etliche tröstliche Momente, Gedanken und Gespräche. Was mir aber am meisten Trost spendet, ist, dass ich so viele schöne Erinnerungen habe an die – natürlich viel, viel, viel zu kurze – Zeit mit Victor.

Ich habe ihn nach seinem Tod gesehen, berührt, einige Male intensiv seine Präsenz gespürt und ich fühle, dass er seinen Frieden gefunden hat. Und wenn man – wie ich – daran glaubt, dass man in den Herzen und Gedanken der anderen weiterlebt, tut er dies in so vielen guten Menschen. Dafür bin ich dankbar. Danke an euch alle. Danke, Victor. Ich liebe dich!

Telefonseelsorge: 0800-111 0111
Berliner Krisendiest: berliner-krisendienst.de
Weitere Hilfeangebote in allen Bezirken: suizidpraevention-berlin.de/hilfe-finden
Freunde fürs Leben e.V. – Aufklärung und Suizidprävention für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene: frnd.de

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