Uns ging er schon allen durch den Kopf – der Gedanke, ob so ein Großstadtleben wirklich kindgerecht ist. Ob unsere Kinder hier genügend Natur erleben und Freiräume genießen können. Um uns dann doch immer wieder beruhigt in unserem urbanen Leben zurücklehnen zu können, bietet unsere Stadt glücklicherweise reichlich Möglichkeiten für Kinder zum Gärtnern, sich um Tiere kümmern, Lagerfeuer machen, Hütten bauen, frei sein und sich dreckig machen ...
Ganz am Ende der Straße steht das alte Backsteinhaus mit dem großen, schweren Gartentor. Schlüpft man hindurch, fühlt es sich ein bisschen so an, als würde man ein Märchen betreten. Üppige Büsche, grüner Rasen, bunte Blumen und Kinderlachen. „Ohhhh, die Tomaten sind wieder ein Stück gewachsen“, ruft die vierjährige Cailin. Sie hockt mitten im Gemüsebeet und untersucht die Stauden ganz genau.
„Ja, in ein paar Tagen können wir sie ernten“, sagt Astrid, die Gärtnerin. Ein Idyll, eine Oase, ein kleines Paradies ist dieser Garten – inmitten der Großstadt und doch gefühlt so weit weg vom Trubel, den Dönerständen, von hupenden Autos und Betonwänden. Und er steht für das, was Großstadt-Eltern sich für ihre Kinder wünschen: Naturerlebnis.
„Sich frei in der Natur zu bewegen, ist für Kinder unheimlich wichtig. Es fördert die komplette Entwicklung eines Kindes, denn anders als auf einem Spielplatz ist in der Natur nichts vorgegeben.“
„Die Kinder brauchen also Fantasie, um sich zu beschäftigen. Und ganz nebenbei lernen sie eine Menge über Pflanzen und Tiere“, sagt Dr. Christiane Richard-Elsner, Projektleiterin „Draußenkinder“ vom ABA Fachverband.
Nur: Studien belegen, dass vielen Kindern heute völlig der Bezug zur Natur fehlt. Die Deutsche Wildtier Stiftung fand heraus, dass fast die Hälfte der Vier-bis Zwölfjährigen noch nie selbstständig auf einen Baum geklettert ist. 22 Prozent der Eltern gaben an, dass ihre Kinder „nie oder fast nie“ ein frei lebendes Tier zu Gesicht bekommen. Wer jetzt schon gedanklich den Umzugswagen bestellt und im Internet nach einem Häuschen auf dem Land sucht, den können wir beruhigen: Auch in der Großstadt gibt es für Kinder viele tolle Möglichkeiten, Natur zu erleben.
Gärtnern
„Zu Anfang denken die Kinder, dass sie einen Tag nach dem Einpflanzen schon ernten können“, sagt Gärtnerin Astrid. „Woher sollen sie es auch besser wissen? Die meisten Großstadt-Kinder kennen Tomaten ja nur abgepackt aus dem Supermarkt.“
Garten-Projekte für Kinder wollen genau das ändern. Den Betreibern geht es darum, das Bewusstsein der Kinder zu verändern. „In unserer Gesellschaft ist ja fast alles ständig verfügbar. Hier lernen viele Kinder erstmals den Kreislauf der Natur kennen. Sie merken, dass Dinge Zeit brauchen, um zu wachsen. Wir glauben, dass das der erste Schritt zu nachhaltigem und umweltbewusstem Denken und Handeln ist.“
Die Begeisterung ist spürbar: Die Kinder packen mit ihren eigenen Händen an, machen sich auch mal dreckig, pflegen Beete, rupfen Unkraut, kümmern sich um Setzlinge. Sie sind verantwortlich dafür, dass die Pflanzen genügend Wasser bekommen und es mit der Ernte auch wirklich klappt. „Es ist für die Kinder etwas Besonderes, wenn sie frische Minze abpflücken können und wir daraus einen Tee machen. Es ist oft das erste Mal, dass sie verstehen, woher unsere Lebensmittel wirklich kommen.“, sagt Astrid.
Und auch bereits Kindergartenkinder im Alter bis zu drei Jahren, die vormittags mit ihren Gruppen den Garten besuchen können, profitierten von dem Grün. „Viele Kitas haben ja keinen eigenen Garten. Bei uns können die Kinder Gras unter den Füßen spüren, an Blumen schnuppern, sich einfach mal richtig austoben.“ Und zwar ohne auf Glasscherben oder Hundehäufchen auf dem Gehweg zu achten.
Buddeln, Pflanzen, sich im Garten austoben – das gefällt hier allen, ob noch im Kindergartenalter wie Cailin (4) oder schon größer wie Lennon (9). Und auch die elfjährigen Zwillinge Pia und Mia finden es cool zu gärtnern:
„Viel besser als nur drinnen abzuhängen.“
„Kinder haben ein enormes Bewegungsbedürfnis, das wissen wir alle. Aber laut einer aktuellen Studie der WHO bewegt sich nicht mal mehr die Hälfte aller Grundschüler eine Stunde täglich“, sagt Dr. Christiane Richard-Elsner. Im Garten-Projekt dagegen sind die Kinder ständig köperlich aktiv. Die elfjährigen Zwillinge Pia und Mia düsen mit der Schubkarre durch den Garten und klettern auf das Baumhaus, der neunjährige Lennon balanciert Runde um Runde auf dem Mäuerchen des Brunnens oder spielt mit seiner Schwester Fangen.
„Nicht nur der Körper, auch der Kopf profitiert von einem Garten. Kinder sehen, dass ein Blatt sich im Aussehen verändert, wenn man es vom Baum reißt. Sie merken, dass Sand nicht schwimmt, wenn man ihn ins Wasser schmeißt. Das sind physikalische Zusammenhänge im Live-Experiment“, sagt Dr. Christiane Richard-Elsner. Den Kindern ist das wahrscheinlich alles gar nicht bewusst. Sie sind einfach nur glücklich. „Hier ist es ist viel cooler als im Einkaufszentrum abzuhängen“, sagt Pia.
Kinderbauernhöfe
Jamiras Augen leuchten, als sie ihre Hände ausstreckt und das kleine Kaninchen streichelt. „Ist das süüüüüß“, flüstert die Sechsjährige hingerissen. Und auch später, als das Mädchen in das Esel-Gehege geht, ist es völlig fasziniert von den Tieren. Sie beobachtet die Esel, wägt ab, wann sie ein paar Schritte näher an das Tier herangeht. „Genau das lernen die Kinder bei uns. Wie muss ich mich verhalten, damit das Tier Vertrauen zu mir fasst“, sagt eine der Tierpflegerinnen des Kinderbauernhofes.
Seit Anfang der 1980er Jahre gibt es inmitten der Stadt dieses Tierrefugium, anfangs war es eine Elterninitiative, mittlerweile unterstützt die Stadt das Projekt. Der Boden ist staubig, zwischen den Büschen picken die Hühner, es riecht nach Stall. Schließt man die Augen, denkt man, man steht mitten auf einem dörflichen Bauernhof und nicht wenige Meter von der nächsten U-Bahn-Station entfernt. Die Beziehung Kind-Tier steht hier im absoluten Fokus. Kitagruppen dürfen die Häschen streicheln, ältere Kinder helfen beim Ausmisten und Füttern.
Kinder, die regelmäßig kommen, machen den „Tierführerschein“. Dabei lernen sie alles über die Haltung und Ernährung der Tiere, sind für deren Wohl verantwortlich. „Tiere sind Balsam für Kinderseelen“, sagt auch Dr. Claudia Laurien-Kehnen von der Stiftung Bündnis Mensch & Tier. „Tiere beurteilen Kinder nicht nach den Klamotten. Ihnen ist es egal, ob sie gute Noten schreiben oder nicht. Was zählt, ist, wie die Kinder sich den Tieren gegenüber verhalten.“ Das sei gerade für Kinder mit schulischen oder familiären Problemen enorm wichtig. „Wenn sie merken, dass sie hier Erfolg haben, stärkt das ihr Selbstbewusstsein auch für andere Bereiche.“
Im Kontakt mit den Tieren lernen Leopold (5), Jamira (6) und Hannah (3) wichtige Lektionen. Bleiben sie ruhig, fassen die Tiere Vertrauen.
Wie sehr der Umgang mit Tieren die Kinder verändern kann, merken die Betreiber des Bauernhofes fast täglich. „Am Anfang ekeln sie sich manchmal noch, finden es dreckig. Nach ein paar Besuchen stapfen sie hier fröhlich durch und packen mit an“, lacht eine Tierpflegerin. Auch die Mutter von Jamira ist ganz erstaunt, wie selbstverständlich sich ihre Tochter traut, die Hühner zu füttern. Das Mädchen kniet sich einfach in den Dreck und hält dem Tier das Futter hin. Selbst als das Huhn ihr in die Hand pickt, bleibt Jamira ruhig. „Sonst ist sie viel ängstlicher“, sagt ihre Mutter.
Da der Bauernhof in einem Stadtteil liegt, in dem viele Kinder mit Migrationshintergrund wohnen, ist das Gelände auch Integrationsstätte. „Die ausländischen Kinder finden hier leicht Kontakt zu deutschen Kindern, gehören plötzlich zu einer neuen Gemeinschaft. Das fördert sie auch sprachlich und gegenseitige Berührungsängste werden abgebaut.“
Abenteuerspielplätze
Vor einigen Tagen hat die Werk-AG eine Seifenkiste fertiggestellt. Wochenlang haben die Kinder daran gebaut.
„Wenn Kinder durch uns verstehen, dass es sich lohnt, an etwas dran zu bleiben, haben wir eigentlich alles richtig gemacht“
sagt Vivian, die Leiterin des Abenteuerspielplatzes. Geht man über das große Grundstück, ist tatsächlich vieles abenteuerlich. Denn nichts ist steril, nichts gewollt, es fühlt sich ein bisschen so an, als sei Pippi Langstrumpfs Villa Kunterbunt gleich nebenan. Kinder schwingen auf Reifen durch die Luft, klettern auf den selbst gebauten Aussichtsturm und am Rande des Geländes wohnt ein rosafarbenes, fröhlich-quiekendes Schwein.
Neben einem Schuppen, der über und über voller Holz und Paletten ist, steht in bunten Buchstaben: Kinderwerkstatt. Hier dürfen die Kinder werkeln, sägen, hämmern und bohren. „Früher hat sowas ja der Vater oder der Großvater den Kindern beigebracht, heute leben viele Familien dafür zu weit verstreut“, sagt Vivian.
Und auch, wenn in vielen Kinderzimmern heute Spielkonsolen stehen, sei das Interesse an handwerklicher Arbeit da. Wie fühlt sich Holz an, nachdem ich es mit Schleifpapier bearbeitet habe? Wieviel Kraft brauche ich, um den Nagel in die Palette zu schlagen? Hier dürfen sich die Kinder ausprobieren, die Betreuer achten darauf, dass die Finger dabei heil bleiben.
In der Kinderwerkstatt oder beim Klettern finden Melody (6), Vincent (5) und Sophia (5) reichlich Gelegenheit, sich
auszuprobieren.
„Wir trauen den Kindern hier aber auch einfach mal was zu und das zahlt sich aus.“
Schnell geht es bei solchen AGs um mehr als nur um das Handwerken. Die Jungs und Mädchen öffnen sich, laden Frust ab, erzählen von Problemen in der Schule. Und erfahren, wie es ist, von einer Gemeinschaft getragen zu werden. „Das Besondere ist, dass all das unter freiem Himmel passiert. Auch im Winter sind wir fast nur draußen, das stärkt auch das Immunsystem“, sagt eine Betreuerin.
Googelt man „Natur Kind Berlin“ bekommt man über eine Millionen Treffer, für München sind es mehr als die Hälfte. Nur, weil man in einer Metropole wohnt, heißt es also nicht, dass Eltern ihren Kindern keine Naturerlebnisse ermöglichen können. Angebote gibt es genug – und die Kinder nehmen sie dankbar an. Weil Draußensein Glück bedeutet.
Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster und der Gehirnforscher Gerald Hüter schreiben genau das in ihrem Buch „Wie Kinder heute wachsen – Natur als Entwicklungsraum“. Dort steht, wenn man ein Kind glücklich sehen wolle, solle man es unter einem Stein nach Kellerasseln suchen oder einen Staudamm in einem Bach bauen lassen. Also, Schuhe an, und los geht‘s!
Drei Naturerlebnisorte haben Katharina und Sarah für uns besucht – wie diese gibt es noch viele weitere in der Stadt – wir haben eine Auswahl für euch zusammengestellt: