STADTGESTALTEN BERLIN – Welche Farben hat der Sommer? Blau wie der Himmel, Gelb wie die Sonne und Rot wie die Himbeeren, Erdbeeren und Kirschen! Im bunten „Turm des Lichts“ von Johannes Itten, der im Martin-Gropius-Bau (MGB) ausgestellt wurde als unsere Autorin Ilka Lorenzen Dr. Susanne Rockweiler dort traf, hätte sich Frederick, der kleine Mäuserich aus dem gleichnamigen Kinderbuchklassiker von Leo Lionni, bestimmt sehr wohl gefühlt. Dieser kleine Feingeist sammelte schließlich die Farben des Sommers vorsorglich für den grauen, langen Winter.
Die Schüler der Klasse 1/2 F der Gustav-Falke Grundschule aus dem Wedding sammeln heute auch Farben – Farben für die Seele! Dr. Susanne Rockweiler, stellvertretende Direktorin des Martin-Gropius-Baus und unter anderem zuständig für die Bereiche Kommunikation und kulturelle Vermittlung, hat die Kinder dafür um die leuchtende Itten-Skulptur versammelt, jeden von ihnen herzlich begrüßt und ihnen zur Einstimmung erstmal die Geschichte von Frederick vorgestellt.
Anschließend sollen sich die 23 Jungen und Mädchen in der Ausstellung auf die Suche machen nach den Farben der Jahreszeiten. Sie werden schnell fündig in den Bildern „Frühling“, „Sommer“, „Herbst“ und „Winter“ von Johannes Itten, die er in seinen letzten Schaffensjahrzehnten, ebenfalls auf der Suche nach der „Kunst der Farbe“, gemalt hatte.
Die Kinder sind ganz bei der Sache, sie kennen sich schon gut aus hier – schließlich sind sie bereits seit einem dreiviertel Jahr regelmäßig zu Gast im MGB. Ihre Klasse nimmt Teil am „Modul 3“ namens „MGB Kunst Hoch Zwei“, dem pädagogischen Vermittlungsprogramm des Ausstellungshauses, das sich über zwei ganze Jahre erstreckt. Susanne Rockweiler hat „Kunst Hoch Zwei“ mit ins Leben gerufen und begleitet diese Klasse persönlich: „Ich bin seit September 2009 am Haus, und es war klar, dass ein Aufgabengebiet sein wird, die Bildung zu stärken, das pädagogische Programm zu stärken. Und ich freue mich, dass ich hier ein intensives Programm aufbauen kann. Wir möchten mit den Kindern nicht basteln. Hier ist der Anspruch wirklich, aus einer Ausstellung heraus ein Programm zu entwickeln, was eben auch die Wechselwirkungen zeigt.“
Für die Kulturwissenschaftlerin Rockweiler, selbst Mutter von zwei Söhnen, ist es neben der Forschungsarbeit eine Herzensangelegenheit, sich den Kindern bei der kulturellen Vermittlung ganz zu widmen: „Das, was früher die Bildungsbürger gemacht haben, was Familien automatisch gemacht haben, dass die Kinder ein Instrument erlernt haben, dass Radio gehört wurde, dass gemeinsam gezeichnet wurde, dass man in Konzerte oder Ausstellungen gegangen ist oder dass einfach mal vorgelesen wurde, das wird immer weniger, das stellen wir fest. Und wir versuchen jetzt im partnerschaftlichen Zusammensein mit Schulen, den Kindern, denen das eben auch nicht ermöglicht wird, weil es für die Familien fremd ist, genau das anzubieten über diese Programme.“
Vor dem Jahreszeitenzyklus von Johannes Itten zupft der kleine Amin Susanne Rockweiler am Ärmel: „Warum steht unter dem Bild da Summer?“. Das sei Englisch, bedeute Sommer und stehe dort für die Besucher aus dem Ausland, damit sie auch lesen könnten, wie das Bild heiße, erklärt Susanne Rockweiler lächelnd. Dass die Kinder der ersten und zweiten Klassen bereits lesen können, sei überhaupt nicht selbstverständlich, schon gar nicht, wenn sie aus Familien mit einer doppelten Halbsprachigkeit kämen. Genau diese Kinder oder auch Kinder aus Familien mit sozialen und wirtschaftlichen Problemen können von den Vermittlungsprogrammen des MGBs enorm profitieren.
Susanne Rockweiler erinnert sich an zwei besondere Erfolgserlebnisse: „Das eine Kind hatte eine Leseblockade, und wir zeigten hier die Ausstellung ‚Taswir – Islamische Bildwelten und Moderne’. Da gab es eine Installation einer Künstlerin aus Damaskus, sie heißt Buthayna Ali, die hat 20 Schaukeln in einen Raum gehängt, und auf den Sitzflächen der Schaukeln waren arabische Begriffe mit Kreide aufgezeichnet. Wir konnten es alle nicht lesen, außer ein Kind, nämlich jenes Kind mit einer absoluten Leseblockade! Und der Junge fing plötzlich an zu lesen und wir waren ganz erstaunt. Und er hat sich gefreut, dass wir ihn motiviert haben, ‚ja lies mal, was steht denn auf dieser Schaukel?’‚Ja, da steht Liebe, da steht Frieden drauf…’. Und dadurch hat sich bei allen Kindern dann der Wunsch entwickelt, alles zu lesen!“
Ein anderer kleiner Junge hatte zunächst überhaupt keine Lust, in den MGB zu kommen, rannte wild herum und störte die anderen. Doch durch ein intensives Erlebnis mit abstrakter Kunst des französischen Malers und Grafikers Pierre Soulages fand auch er einen Zugang, vor allem zu sich selbst. „Und von da an war dieses Kind wie ausgewechselt. Er kam nach dem Kurs zu mir und sagte: Ich will morgen mit meinem Papa zu dir kommen, gib mir deine Rufnummer! Und am nächsten Tag klingelte wirklich das Telefon – ‚Ja, Achmed sei da mit seinem Vater, er möchte ihm die Ausstellung zeigen’. Und ich finde, wenn man so ein Erlebnis hat, sind das wirklich 100 Punkte!“
Wenn die Kinder begeistert sind, dann sind es die Eltern offensichtlich meist auch. Und dann ist eben ein Museum auch kein Tempel mehr, die Hemmschwellen für einen Besuch werden niedriger. Einerseits will der MGB ausdrücklich kein Eventhaus sein, die Kinder sollen hier nicht bespaßt werden, andererseits aber eben auch keine schnarchige Institution. Die Kinder der Klasse 1/2 F siedeln nun über ins Atelier im Keller des MGBs, vorbei an den großen, mit rotem Wachs gefüllten Bottichen des britischen Künstlers Anish Kapoor. Hier unten im Atelier können sie heute die drei Grundfarben Blau, Gelb und Rot mischen und aus Sommerfarben Herbstfarben herstellen. Susanne Rockweiler macht es vor und die Kinder pinseln eifrig drauf los.
„Die Reihe ist deshalb erfolgreich, weil sie so penetrant ist, weil sie eben wirklich über zwei Jahre geht. Wir könnten niemals diese Spur bei den Kindern hinterlassen, wenn sie nur einmal da wären oder zweimal. Aber wenn sie 30 Mal da sind, da kann ich wirklich auch drauf aufbauen.“ Beim nächsten Mal soll es dann zum Beispiel um die Frage gehen: Welche Farben haben Klänge? Die Kinder werden das Bild ‚Concerto grosso’ von Johannes Itten ansehen und dazu klassische Musik hören, vielleicht von Smetana. Und sie werden überlegen, ob es helle oder dunkle Klänge geben kann. „Wie die Flöte beispielsweise, da denkt man automatisch an helle Farben, Gelb insbesondre kommt einem da in den Sinn, wenn man sie hört.“ Ein Gelb, so gelb und so hell wie der Sommer!
Aktuelle Ausstellungen im Martin-Gropius-Bau: Kapoor in Berlin. 18.5.-24.11.2013. Antes. Malerei 1958-2010. 14.6.-16.9.2013. Meret Oppenheim. Retrospektive. 16.8.-1.12.2013. Infos zum
Begleitprogramm unter: www.gropiusbau.de