Was Kinder werden wollen, wenn sie groß sind. Und wie wir ihnen dabei helfen können, herauszufinden, wer und was sie sein können.
„Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten.“ Lieber Konfuzius, das klingt fabelhaft. Nur: Wie gelingt die Berufswahl, damit dies auch wirklich klappen kann?
Wir haben uns also hier nicht nur angeschaut, was Kinder heutzutage werden wollen, wenn sie groß sind. Vielmehr fragten wir uns auch, wie wir als Eltern die Rollenbilder und Zukunftsvorstellungen unserer Kinder prägen. Unsere Autorin Sabine Neddermeyer wollte deswegen wissen: Wie finden unsere Kinder ihren ganz eigenen Weg, und zwar möglichst unbeeinflusst von tradierten Vorstellungen?
Youtube-Star? Online-Game-Programmierer:in? Oder lieber Umwelt- und Ernährungsethiker:in? Auf der Suche nach den neuesten Erkenntnissen darüber, was Schüler:innen werden wollten, wird man – gelinde gesagt – überrascht. Denn die meisten von ihnen nennen in diversen Umfragen des Marktforschungsinstitutes Icon & Youth oder der Lego GmbH tatsächlich traditionelle Berufe.
Die Veränderungen der digitalen Arbeitswelt sind interessanterweise aktuell noch nicht wirklich in den Berufsvorstellungen der Kinder und Jugendlichen zu finden. Obwohl es ziemlich viele spannende Berufe gibt, die man in der Generation unserer Eltern weder aussprechen, geschweige denn sich überhaupt vorstellen konnte, haben Schulkinder heute erstaunlicherweise nahezu die gleichen Traumberufe, wie wir sie vor 20 oder 25 Jahren hatten.
Berufswünsche wie Kinderkrankenschwester, oder bei den Jungs Arzt und Tierarzt, stehen bei den Fünf- bis Neunjährigen heute immer noch ganz oben. In der Rangliste der Jungen folgen Fußballspieler und Polizist. Bei den Mädchen wurde immerhin der damals genannte Wunschberuf Kinderkrankenschwester in der Rangfolge von Ärztin abgelöst.
Dennoch bleibt eines mehr als offensichtlich: Bei den jüngeren Schulkindern sind Geschlechterklischees noch immer ziemlich ausgeprägt. Jungs sind fasziniert von Berufen, die actiongeladen und cool sind, Mädchen sehen sich gern als Helferin von Menschen und Tieren.
Natürlich, diese frühen Berufswünsche symbolisieren allesamt den Wunsch, später mal Held:innen sein zu wollen. Doch auch die Berufsbilder der in der aktuellsten Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) befragten 15-Jährigen sind noch immer traditionell. Auch im Zeitalter sozialer Medien und künstlicher Intelligenz sehen sich die Jugendlichen selbst kaum in Berufen, welche mit der Digitalisierung entstanden sind! Sondern auch sie sehen sich vor allem in Berufen wie Ärztin:Arzt, Lehrer:in, Polizist:in oder Unternehmensmanager:in.
OECD-Studie zu Berufswunsch
Die OECD befragte rund 5.000 Schüler:innen im Alter von 15 Jahren in Deutschland. Weltweit nahmen bei dieser Studie knapp 500.000 Schüler:innen teil. Die Top Five der Mädchen in absteigender Reihenfolge sind Lehrerin, Ärztin, Erzieherin, Psychologin und Krankenschwester. Gewinner bei den Jungen ist der Bereich Informations- und Kommunikationstechnik, gefolgt von Industrie- und Automechaniker, Polizist und Lehrer.
Erstaunlich, nicht wahr? Einigermaßen verwundert, drängen sich spätestens jetzt geballt die großen Fragen auf: Sind diese Wünsche genetisch geprägt? Oder doch von Erziehung und Gesellschaft? Haben wir vielleicht doch noch nicht die Umgebung für die Kinder geschaffen, in denen sie sich frei genug entfalten können? Wenn nein, wie kann ich diese Umgebung bitte schaffen? Wie mache ich mir die eigenen Prägungen und die unseres Umfelds bewusst? Sollte ich vielleicht dagegen steuern? Und wenn ja, wie?
Seit vielen Jahrzehnten arbeiten wir in unserer Gesellschaft daran, dass Kinder in einer offenen Gesellschaft groß werden, seit einigen Jahren auch in einer inklusiven Gesellschaft. Wir als Eltern denken, wir leben in unserem Berufsleben, in unserer Beziehung, den Kindern eigentlich alles vor. Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Im Grunde geht es ausschließlich darum, die Kinder Fertigkeiten und Wissen entwickeln zu lassen.
Rollenbilder im Alltag
Wenn sie sich wirklich selbst finden dürfen sollen, müssen wir die Rollenbilder ihres Alltags betrachten. Wenn Jungs wild sind und sich körperlich auseinandersetzen: Trifft das vielleicht immer noch auf mehr Akzeptanz, als wenn Mädchen dasselbe tun? Wenn man Mädchen eher und Schrägstrich oder häufiger um Hilfe im Haushalt oder beim Betreuen der Geschwister fragt – mal ganz ehrlich: Wie sieht es dann mit unseren eigenen Mustern aus, die hier unbewusst zum Tragen kommen? Wenn man betrachtet, wer häufiger eher Teilzeit und wer eher Vollzeit arbeitet, oder wer im Zusammenleben häufig welche Tätigkeiten übernimmt …
Eigentlich geht es ja uns allen als Eltern darum, unsere Kids dazu zu bringen, im Laufe ihrer Kindheit und Jugend selbst herauszufinden, was ihm oder ihr liegt. Eigentlich wohlgemerkt. Welche Fähigkeiten, oder besser noch, welche Stärken und Schwächen sind da?
Wie Erwartungen Berufswunsch und spätere Berufswahl prägen
Interessant zu schauen, inwieweit wir auch mit unseren Erwartungen die Berufswahl unserer Töchter und Söhne prägen – bemerkenswerterweise folgen nämlich viele den Berufen ihrer Eltern. Oft ist es so, weil die Kinder diese Berufe gut zu kennen meinen, oder weil sie in die Fußstapfen eines Elternteils treten möchten. Und dabei manchmal erst später erkennen, dass der gewählte Beruf gar nicht so sehr ihren eigenen Fähigkeiten und Neigungen entspricht.
Zurück aber zur unangenehmen Frage, wie viel die Sozialisation ausmacht versus wie viel „typisch Mädchen“ oder „typisch Junge“ sein könnte. Ja, Mädchen und Jungs tun typische Sachen, wenn sie in die gängigen Rollenbilder hineingepresst werden, findet auch Lotta Rajalin. Die Stockholmer Lehrerin ist deswegen vor zehn Jahren genau deswegen angetreten: um Orte ohne Rollenklischees zu schaffen. Dieser Ort ist die von ihr gegründete und seitdem aufs stärkste polarisierende Vorschule Egalia.
Genderneutral erziehen
Deren Erzieherinnen und Erzieher sagen zu den Kindern der Einrichtung, so beinhaltet es das Konzept der genderneutralen Erziehung, nicht mehr „Jungen“ oder „Mädchen“, sondern „Freunde“. „Er“ oder „sie“ nutzt man als Erwachsener hier einfach nicht mehr. Stattdessen aber den geschlechtsneutralen Begriff „hen“, quasi eine Neuschöpfung aus „er“ und „sie“ („han“ und „hon“).
Im Bezug auf Berufsbilder, über die sie mit den Kindern sprechen, verwenden Rajalin und Kollegen Antistereotype: Wenn es also um den Beruf Astronaut geht, wird den Kindern das Bild einer Astronautin gezeigt. So sollen diese lernen, dass sie wirklich alles machen können, was sie möchten. Und dass sie nicht durch ihr Geschlecht auf eine Berufsgruppe festgelegt werden.
Nicht nur bei der Literatur schaut man, wie es die Entwicklung der Kinder in Geschlechter- und Gleichheitsfragen beeinflussen könnte. Klassische Märchen gibt es im Egalia-Kosmos schlicht nicht, denn von dieser Erzählform ist man sich sicher, sie vermittele Klischees. Es gibt dafür aber diverse und wahnsinnig kreative Geschichten; das männliche Giraffenpaar zum Beispiel, das ein Krokodilbaby adoptiert. In vielen Büchern geht es um homosexuelle Elternpaare, Adoptivkinder oder Alleinerziehende. Auch bei den Spielsachen lernen die Kinder anders: Nicht über das Geschlecht werden die Puppen definiert, sondern über ihre verschiedenen Gesichtsausdrücke. Gefühle statt Geschlecht.
Doch wie überall gibt es Pro und Contra. Das Konzept der Geschlechtsneutralität von Egalia ist umstritten. Kritiker bemängeln, Wörter oder Geschichten unsichtbar zu machen, sei auch eine Art von Diskriminierung. Und dass stattdessen die Philosophie des Ergänzens statt des Versteckens eine weitaus bessere Idee sein könnte.
Der Wuppertaler Entwicklungspsychologe Hanns Martin Trautner untersuchte, wie flexibel kindliche Ansichten über Männliches und Weibliches sind. Zwischen drei und sechs Jahren stellte er eine „dramatisch anwachsende Bedeutung der Geschlechterkategorien“ fest. In dieser Lebensphase haben die Kinder normalerweise also gelernt, dass das Geschlecht eine zuverlässige Kategorie zur Groborientierung ist. Auch haben sie gelernt, dass es eine hohe soziale Gewichtung hat.
Spannend wird es, wenn man nun noch die Sicht des Neurobiologen und bekannten Autors Gerald Hüther hinzunimmt. Er vertritt die Einstellung, dass Mädchen und Jungs keine androgynen Gestalten sind. Und dass wir ihre Unterschiedlichkeit und Verschiedenartigkeit bräuchten.
Alte Rollenbilder seien in sich zusammengefallen und auch Väter wissen heute oft nicht, welche Rolle sie spielen würden. Genau deshalb können sie keine guten Orientierungen an ihre Jungs weitergeben. Wer so täte, als wären wir gleich, läge falsch. Es sei ja aus rein biologischer und genetischer Sicht nicht so. Was wir bräuchten, so Hüther, sei Chancengleichheit; doch was wir jetzt täten, auf dieser Suche nach Chancengleichheit, sei Gleichmacherei. Sonderbehandlungen eines Geschlechtes hält er für falsch.
Was sagt der Neurobiologe Gerald Hüther?
Gerald Hüthers Fragestellung ist: Wie können wir versuchen, die in Mädchen und Jungs angelegten Potenziale entfalten zu können? Seine Antwort: Das Wichtigste bestünde darin, nicht in Rollen gepresst zu werden, sondern sich selbst nach den eigenen Talenten und Begabungen entwickeln zu können. Nicht alle gleich zu machen, sondern sich umso mehr darüber zu freuen, je verschiedenartiger man ist.
Die moderne Hirnforschung hat laut Hüther die Konzepte aus dem letzten Jahrhundert über den Haufen geworfen. Dergestalt, dass das menschliche Hirn von genetischen Programmen gesteuert werden würde. Er meint, dass unsere genetischen Anlagen sozusagen einen Überschuss hervorbringen würden: Es wird mehr bereitgestellt, als gebraucht wird. Das hieße, das menschliche Hirn sei total offen, es wäre viel mehr möglich, als wir denken würden.
Das Hirn folgt nur den Körperlichkeiten. Es hänge einfach von der jeweiligen Gesellschaft ab, in der man lebt. Schon vorgeburtlich wird im Hirn viel mehr Vernetzung aufgebaut, mit der man alles lernen könnte. Unbestritten: Wir sind als Menschen ja tatsächlich nicht auf einen Lebensraum programmiert. Das Hirn strukturiert sich anhand der aus dem eigenen Körper kommenden Signalmuster. Und deshalb ist die Struktur bei Jungs von Anfang an anders als bei Mädchen. So, wie es das Hirn bereits in der vorgeburtlichen Phase macht, so strukturiert es sich weiter anhand der Beziehungserfahrungen, die es in der Familie und der jeweiligen Gesellschaft macht.
Innerhalb der ersten drei Lebensjahre lernen Kinder Sprache, die komplette Körperbeherrschung und machen als Subjekt Lernerfahrungen. Solange sie die Gestalter des eigenen Lern- und Entwicklungsprozess sein dürfen, hört laut dem Neurobiologen die Lust am Lernen und somit an der Entwicklung niemals auf. Die Lust sich selbst zu entdecken, die in einem selbst angelegten Potenziale zur Entfaltung zu bringen, verschwindet allerdings sofort, wenn Kinder zum Objekt gemacht würden: mit Vorgaben, Bewertungen und Erwartungen, durch Belohnungen und Bestrafungen, durch unsere Eltern-Vorstellungen.
Hüther regt eine andere Art des Umgangs an: Versuchen, anzunehmen, wie das Kind ist, es wertzuschätzen, es nicht deshalb zu mögen, weil sie oder er so viel hingekriegt hat. Sondern einfach, weil sie oder er da ist. Kindern zutrauen, dass sie auch von sich aus etwas leisten möchten, ohne dass man sie mit Anreizsystemen sie dahin bringen müsste, dass sie etwas leisten. Eben nicht schieben und drücken für Höchstleistungen. Jedes Kind sollte demnach die Möglichkeit bekommen, alles, was es an Begabungen und Talenten in sich trägt, hervorbringen zu können: Durch ein Ermutigen, ein Inspirieren, dass das zur Entfaltung bringt, was in ihnen steckt.
Modelle, wie sie auch die visionäre Brightworks-Schule in San Francisco verfolgt, gehen diesen Weg. Dort gibt es beispielsweise keine Klassen, sondern Gruppierungen in Banden – aber nicht nach Alter, sondern nach individuellen Interessen. Drei Mal pro Jahr wird ein Überthema gewählt. Schulleiter Tulley will eine intrinsische Motivation der Schüler:innen erzeugen: „Sie sollen lernen, weil sie lernen wollen, nicht weil es ihnen jemand aufdrängt.“
Was wir für unsere Kinder tun können?
Es klingt einfach, ist es aber keineswegs. Nicht erwarten, dass Andere das machen, was wir uns vorstellen. Nicht bewerten. Anstatt Kindern zu zeigen, wie die Welt funktioniert, versuchen, ihnen die Möglichkeit zu geben, dies selbst herauszufinden. Genau dort fängt Gleichberechtigung an.
Eine einfache Adhoc-Idee könnte sein, keine vergangenen Stereotype und Rollenbilder mehr zu reproduzieren – über das also, was unsere Kinder in den Kinderzimmern umgibt. Selbstverständlich repräsentieren Kinderbücher Vorbilder. Nur: Dabei können sie ja auch echte Lebenswelten zeigen. Auch unsere ewig bohrende Frage, ob man also Mädchen pinke Glitzer-Prinzessinnenphasen ausleben lassen sollte, wird somit obsolet. Man muss eben nur den Jungsmädchen oder Mädchenjungs ebenfalls erlauben, diese Phase auszuleben. Wahrscheinlich ist diese nämlich schlicht und einfach wichtig, um den eigenen Weg ganz für sich selbst finden zu dürfen.
Styling: Izabela Macoch, Hair & Make-up: Oliver Hänisch, Modelagenturen: Younger Models, Juniormodels
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