„Hygge“ ist der Kernbestandteil der dänischen Tradition und bezeichnet im Wesentlichen eine gemütliche, herzliche Atmosphäre, in der man das Gute des Lebens mit netten Leuten zusammen genießt. Grund genug für unsere Autorin Sabine Neddermeyer sich auf Spurensuche vor Ort zu begeben und das Hygge-Manifest an eigenem Leib und an dem ihrer Familie zu testen.
Wer kennt es nicht, dieses kleine miese Stimmchen im Ohr? Dieses hinterhältige Ding, das uns Übles einflüstern will? Dass Andere es besser hätten? Dass sie jetzt gerade glücklicher wären? Mich befällt es oft mitten in der Woche gegen späten Nachmittag. Und zwar dann, wenn ich mich gerade im schlimmsten Höhepunkt meines tagtäglichen Wahnsinns vom „Ich-muss-noch-schnell-dies-ich-muss-noch-schnell-das“ befinde. Okay, ich lasse die Katze aus dem Sack: Ich bin ganz unfassbar neidisch auf die Dänen. Denn die, die haben dieses Hygge. Und wir? Wir haben Stress und Rücken!
Stattdessen haben wir noch nicht mal eine Übersetzung für die beste Zutat des Glücksrezepts von Gemütlichkeit und Geborgenheit. Gut, damit stehen wir nicht alleine, denn dieses Wort will sich schlicht nicht aus dem Dänischen in andere Sprachen übersetzen lassen. Ich wollte es nun ganz genau wissen. Nach der Teilnahme an der Berliner Glückskonferenz in den Nordischen Botschaften, auf dessen Podiumsdiskussion Forscher, Autoren und Psychologen über das Glück fachsimpelten, beschloss ich kurzerhand: Ich starte den ultimativen Praxis-Hygge-Glücks-Check vor Ort – ein langes Familienwochenende mit Mann und Kind. Hej, auf nach Dänemark!
Als meinen theoretischen Wegweiser suche ich mir das Buch von Meik Wiking heraus: „Hygge, ein Lebensgefühl, das einfach glücklich macht.“ Wiking ist nicht nur der Autor dieses inoffziellen Hygge-Manifestes, sondern auch CEO des Happiness Research Instituts in Kopenhagen, dem ich einen offziellen Besuch abstatten werde.
Was ich vielleicht vorab erwähnen sollte, ist Folgendes: Ich habe die zwei härtesten Glücks-Tester überhaupt dabei. Denn meine Tochter hat kein Entdecker-Gen, aber eine latente Abneigung gegen harmonische Zustände, gepaart mit einer chronischen Bewegungsunlust. Und mein Mann ist total genervt, dass er sein eigentlich geplantes Männerwochenende für diesen „Hygge-Schnickschnack“ aufgeben muss. Kurz: Ich denke, das hier wird nicht #hyggelig, sonder eher #krampfyg …
„Kaffee, Schokolade, Kekse, Süssigkeiten. Her damit!“
(3. Gebot Hygge-Manifest)
Eine nicht ganz 100%ig kinderkompatible Route liegt vor uns: Mit dem Auto um fünf Uhr früh los, damit wir die erste Fähre ab Rostock schaffen. Um möglichst viel sehen zu können, „müssen“ wir natürlich nach Kopenhagen. Vom Design-Mekka brauche ich ja niemandem mehr zu erzählen – allein für einen Shoppingtrip könnte man sich bestens in Kopenhagen verlieren. Da ich jedoch dringend vorhabe, meine so reizend gelaunte Reisebegleitung sanft zu stimmen, halte ich mich an den schlauen Rat meiner Hygge-Bibel. Ein Elfmeter ohne Torwart! Na gut, lasst uns doch mal quer durch Kopenhagen futtern, Leute! Ich ernte glänzende Augen.
Kopenhagens angesagte Stadtteile kann man sich übrigens ganz gut merken: das nördlich liegende Nørrebro, das östlich liegende Østerbro, das westlich liegende Vesterbro. Frederiksberg ist eine eigene Kommune. Sehr angesagt ist derzeit Nørrebro. Besonders lecker soll ein Laden namens Grød sein. Hin da! Wir haben eine lange Fahrt hinter uns, das kann ja eine Orgie werden, mutmaße ich. Doch was jetzt kommt, wird mir mit Sicherheit keiner glauben: Fakt ist, dass wir drei exakt hier, in einer Haferbrei-Bar, hängen bleiben. Und zwar stun-den-lang. Obwohl defnitiv alles hier nur gesund ist, kommen wir aus der Verzückungsphase gar nicht heraus.
Die elfjährige Luzie schwärmt noch lange später von den Porridge-Variationen, von Kernen und Nüssen, Apfel- und Vanillekompott mit Skyr, aber am längsten von den veganen (!) Kräuterbouletten. Ich verstehe die Welt nicht mehr, dass es gar keine überzuckerten Fettigkeiten brauchte, um uns drei derartig zu beglücken? Natürlich probieren wir später auch noch mal die klassischen Zimtschnecken vom Bäcker: klar, auch die sind lecker. Aber unerreicht das hier. Note to self: Öfter nach Dänemark zum Essen.
So, machen wir jetzt zuerst die Hafen-Tour? Wollen wir ins Tivoli, den Bespaßungspark? Ins Experimentarium? Zu den alten Segelbooten in Nyhavn oder zur Wachablösung vor dem Schloss? Oh, im Schloss Rosenborg, da sind doch die Juwelen der dänischen Königin! Die Garde läuft jeden Tag zur Musik, eine halbe Stunde, um halb 12 ab dem Königsgarten, dem Kongens Have, dem Garten, den 1606 König Christian IV. anlegen ließ.
Im Norden des größten Kopenhagener Parks steht ein großes Hans Christian Andersen-Denkmal. Ich muss schmunzeln über den Kontrast der Jugendlichen zu seinen Füßen. Als ich versuche, meiner Tochter zu verkaufen, dass sie auf ihren Smartphones wahrscheinlich gerade „Die kleine Meerjungfrau“, „Das hässliche Entlein“ oder „Des Kaisers neue Kleider“ lesen, müssen wir beide sehr lachen.
Apropos Handy: Meine Cityguides, Blogs und Apps schlagen die coolsten kinderfreundlichen Aktivitäten vor und ich versuche schnell auf Google Maps die aktuell schlauesten Strecken und bes- ten Verkehrsverbindungen von A nach B und von X wieder nach C über Z zu eruieren … Bis ich merke, wie mein digitaler Aktionismus alle Beteiligten um mich herum total stresst. Wie mein Versuch, eine Stadt unbedingt in kurzer Zeit zu erkunden, alle wuschig macht mit meinen gefühlt hunderten von Lass-mal-unbedingt-hierhin und Das-müssen-wir-auf-jeeeden-Fall-auch-noch-sehen.
Sicher: Hier gibt es viel Tolles zu sehen. Aber direkt vor meiner Nase, da sitzen die zwei wichtigsten Menschen meines Lebens. Die zu sehen, sie endlich mal für ein paar Wochenendtage ganz nah zu haben und mit ihnen wertvolle Zeit zu verbringen, DAS ist doch tausendmal toller als jede andere Attraktion der Welt? Ach … Manchmal versteht man eben auch als Mutter Dinge erst verdammt spät …
„Sei im hier und jetzt. Und mach das Handy aus.“
(2. Gebot Hygge-Manifest)
Wenn man es zulässt, ja dann … passieren die schönen Dinge. Wir sitzen mit abgeschaltetem Handy, chillen und hören plötzlich supercoole Musik, die aber fast ebenso schnell wieder verebbt, wie sie begann. Gerade noch aus den Augenwinkeln sehe ich eine Live-Band in einem seitlich offenen Lkw an uns vorbeifahren. Übermütig renne ich dem Wagen hinterher. Jemand auf der Straße erzählt mir, dass es Freunde von ihm seien und die drei Jungs jedes Wochenende so durch die Stadt ziehen. Kann das in meiner Stadt bitte auch mal jemand jeden Samstag tun? DAS würde mich echt glücklich machen.
Was eine Stadt ausmacht, wenn man gerne in ihr leben möchte, das hat der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl, der weltweit Stadtentwicklungsprojekte unter dem Motto „Making cities for people“ konzipiert, ganz wunderbar formuliert: „People stay longer than really necessary, because they are enjoying themselves.“ Das brandneue Dansk Arkitektur Center DAC zeigt dazu in seiner Ausstellung „Welcome Home“ eine Menge zauberhafter Ideen an Wohnkonzepten der Zukunft, die in Dänemark jetzt schon Praxis sind.
Das Mehrgenerationenprojekt, in dem seit Jahren schon Senioren und Studenten zusammen leben, beeindruckt mich sehr. Eine Illustration zeigt, dass es in Kopenhagen mal eine Phase gab, da schnallte man sich wegen des Platzmangels zum Schlafen im Stehen mit einem Ledergurt an die Wand. Auch schön! An verschiedenen Stationen kann man mit seinen individuellen Angaben das passende Setting für die Zukunft finden lassen. Hätte nie gedacht, dass wir auf der Suche nach dem Glück in Dänemark so viel über unsere Familie – und was wir wollen oder nicht wollen – nachdenken würden. Es gibt so Vieles, was ich noch nicht über meine Familienmitglieder wusste!
„Bau Beziehungen auf, und Erinnerungen. Weisst Du noch, als wir…?“
(9. Gebot Hygge-Manifest)
Aus den zunächst blödesten Erlebnissen werden später manchmal die unvergesslich schönsten. So werden wir alle drei sicher niemals vergessen, wie bei mir dicke Tränen rollen, als wir die geplante Nachmittagsfähre nach Aarhus verpassen. Dabei hatte ich so viel vor. Um endlich Ólafur Eliassons Kunstwerk „Your Rainbow Panorama“ im ARoS, dem Hauptkunstmuseum von Aarhus und einem der größten in Nordeuropa zu sehen, hatte ich mir eigentlich viel Zeit gewünscht. Und nicht nur eine Gnadenviertelstunde, die mir die netten Mitarbeiter des Museums gewähren, als das Museum schon schließt. Gemein, wenn man montags Zeit hätte, aber das Museum Öffnungszeiten wie ein Dorffriseur hat.
Doch unvergesslich: Den ganzen Tag lang war trübes Wetter, und nun, in dieser letzten Viertelstunde am Abend, zieht der Himmel auf und die Sonne kommt raus! Vom Dach des Museums blättert sich eine in geradezu magisch schönes Licht getauchte Rundumsicht über ganz Aarhus auf. Unter dem schwebenden Kunstwerk könnte man, sofern man auch nur ein wenig mehr Zeit mitbrächte als wir, auch auf der Dachterrasse die Aussicht genießen.
„Mach es dir bequem. Mach eine Pause. Entspannung ist alles.“
(7. Gebot Hygge-Manifest)
Rasend schön ist es ja, nach all dem Herumgecruise in einer Unterkunft anzukommen, in die man sich schon beim Planen einer Reise total verschossen hat. Um es uns zwischendurch gemütlich zu machen, hatte ich uns ein Ferienhaus zum Ausruhen quasi in der Mitte, zwischen Kopenhagen und Aarhus im nördlichen Teil der Insel Sjælland (Seeland), ausgesucht. Mit Meerblick. Luzie hat sich die Fotos „unseres“ irre schönen Novasol-Ferienhauses schon Wochen vorher immer wieder angeschaut.
Das Suchen nach dem schönsten, gemütlichsten, schrulligsten, modernsten Haus macht für unsere Familie immer wieder einen großen Teil der Vorfreude auf eine Reise aus. Was man vorher im Internet nicht sehen konnte, war das Reh, das uns bei unserer Ankunft am Haus empfing und minutenlang anschaute. In den folgenden Tagen trafen wir es immer mal wieder. Diese Ruhe hier! Wir machen einfach mal gar nichts. Sondern einen Schlumpertag. Höchstens zum Strand gehen.
Gott, ist das herrlich, das faule Leben, das man sich sonst kaum traut zu leben. Mehr davon! Hygge-Experte Maik Wiking erzählt, was ihm mal eine alte Dame verriet: „Ich lebe dieses angeblich neue Konzept schon mein ganzes Leben lang. Nur hatte ich nie einen Namen dafür!“
„Das schöne Leben ist jetzt. Geniess es, besser kann es vielleicht gar nicht werden.“
(5. Gebot Hygge-Manifest)
Er verrät auch, dass er am allerglücklichsten ist in Situationen, in denen er in den Flow kommt. Das sei bei ihm beim Tangotanzen, obwohl er ein miserabler Tangotänzer sei. Na also! Dann gebe ich hier und jetzt unumwunden zu, dass man in Dänemark zwar ganz hervorragend essen gehen kann, dass es aber noch viel schöner ist, nicht kochen zu können und trotzdem gemütlich die schlichten Nudeln mit noch schlichterer Soße im Kerzenlicht zu schnabulieren.
Das, was mich am glücklichsten gemacht hat: im Sonnenuntergang kochen. Kartenspielen am Abend. Meine Tochter im Kaminschein ausgelassen tanzen sehen. Ein kleines bisschen mehr Zeit als normal mit geliebten Menschen verbringen. Das macht wirklich glücklich. Vielleicht sollten wir uns einfach mehr erlauben, kleine Faulheits-Hygge-Inseln in unseren Alltag einzubauen. Sachen zu machen, die man liebt. Schnurzpiepsegal, wie es aussieht oder was die Anderen über einen denken. Hauptsache, man kann es vor sich selbst in irgendeiner Form als hygge verargumentieren. Aber das – das sollten wir jetzt ganz easy hinkriegen. Ha!