Essen, Trinken, Reden, Feiern, Streiten, Malen, Basteln – rund um den Familientisch spielt sich in den meisten Familien ein großer Teil des gemeinsamen Lebens ab. Wer deckt auf, wer deckt ab, gibt es feste Sitzplätze, welche Rituale pflegen die Familien?
Sind gemeinsame Essenszeiten die Regel oder eher die Ausnahme? Fotografin Sibylle Baier hat für uns verschiedene Familien aufgesucht und sie in ihrem Alltag rund um ihren Tisch porträtiert. Autorin und Kabarettistin Katinka Buddenkotte hingegen hat ganz eigene Erinnerungen an die Familienmahlzeiten ihrer Kindheit beizusteuern.
Familien am Tisch und immer wieder die eine Frage
In einer Gesellschaft, in der nahezu jedes Nahrungsmittel ständig zur Verfügung steht, wird wohl eine Frage nie zu aller Zufriedenheit beantwortet werden können: „Was esse ich heute?“ Im Gegenteil, es wird immer noch komplizierter: Je mehr Menschen einen Haushalt bevölkern, bzw. sich um Herd und Tisch drängen, desto schwieriger wird es, eine Auswahl zu treffen.
Von strengen Veganer:innen über sehr durchschaubare Teilzeit-Vegetarier:innen, temporäre Eiweiß-Junkies und Schwangerschaftspfund-Bekämpferinnen gibt es da noch die, die plötzlich beschließen, dass sie nur noch Nudeln mögen. Und zwar pur. Oder Karotten, aber nur am Abend, nur diese Woche, es sei denn, es gibt Eis, irgendwo.
Und während man noch überlegt, dass man doch selbst ein ganz normales Kind war, das immer gerne alles gegessen hat, und der andere Elternteil glaubhaft ganz ähnlichen Erinnerungen nachhängt, fällt es einem ein: Na klar, bei uns zu Hause gab es ja auch damals eine ganz andere, völlig normale Esskultur, die genau so auszusehen hat:
Das Idealbild
Selbstverständlich wird zu einer festen Zeit gegessen, das heißt natürlich auch, vorher gesund und vollwertig gekocht, eine Mahlzeit aus frischen, auf dem Markt erstandenen, fair gehandelten Lebensmitteln, und dann setzt sich die gesamte Familie an den schon gedeckten Tisch. Beim Essen wird über den vergangenen Tag geredet, der folgende geplant. Das Ganze geschieht auf jeden Fall abends, und mittags, wenn möglich. Und zwar jeden Tag, genau.
Stopp. Das war höchstwahrscheinlich nicht eure Familie, die das so gehandhabt hat. Das waren entweder die Schauspieler:innen aus der Werbung, die zwar schön beieinander saßen, aber erstens gar nicht miteinander verwandt waren, und euch zweitens Tütensuppen verkaufen wollten.
Die einzig andere Möglichkeit, in der eure Erinnerungen mit diesem Idealbild deckungsgleich seien könnten, wäre die: Ihr seid in einem Familienbetrieb groß geworden, der entweder der Gastronomie oder der Landwirtschaft zuzuordnen war. Auf so einem Bauernhof, da klappt das wirklich, wie ich in meiner Jugend beobachten durfte. Wenn mich meine Freundin Jule nach der Schule mit zu sich nach Hause genommen hat, dann war das so eine Mischung aus Flüchtlingslager, „Michel aus Lönneberga“ und „Brave New World“.
Zum einen saß da Jules ganze, große Familie an einem rustikalen Tisch, der wiederum war mit einer Einmal-Papierdecke bedeckt, und die unvermeidlichen Fliegenfänger hingen wie Tentakel von den Wänden. Es wurde bei Tisch geredet, also, die Azubis beantworteten dem Bauern Fragen, in denen es meist um die anstehenden Kastrationen der Jungbullen ging. Dazu passend gab es Rinderbraten an Knödeln. An der einen Ecke des Tisches wurde die 90-jährige Oma ebenso selbstverständlich mitgefüttert wie mitgebrachte Stadtkinder wie ich.
Die Portionen waren immer riesig; genug Kalorien auf jedem Teller, um die Heuernte im Alleingang einzufahren. Eine Wirtschafterin (die aber wirklich wie Lina, die schwedische Magd vom Katthult-Hof aussah), sorgte für den Einkauf, die Zubereitung und den Wochenplan, der an eine Tafel geschrieben wurde, inklusive Suppe und Nachtisch.
Einerseits fand ich das schön, beeindruckend und so herrlich stabil. Andererseits wurde mir bald klar, dass es da keine Diskussion gab, über gar nichts: Bei Jule wagte kein Kind zu fragen, ob es ein Eis haben könne, wenn Quarkspeise auf dem Plan stand. Vielleicht verstand man, dass ein volljähriger Mensch es ablehnte, wenn Brokkoli auf seinen Teller geladen wurde, aber Vegetarier:innen zu kennen, oder gar eine:r zu werden – das konnte man sich hübsch abschminken.
Die Realität
Da lief es bei uns zu Hause schon anders: Nicht unbedingt chaotisch, oder gar gleichgültig, was die Nahrungsaufnahme anging, aber doch sehr durch die jeweiligen Lebensabschnitte der unterschiedlichen Familienmitglieder geprägt. Meine erste Erinnerung an gemeinsames Essen mit der gesamten Familie besteht zu gleichen Teilen aus Dosenravioli und Disputen. Der Ravioli-Part hat allen gefallen, der Hund sorgte für Sauberkeit unter dem Tisch, die Vorbereitungen waren übersichtlich, und meine Mutter sagte: „Morgen gibt es dann aber was Vernünftiges.“
Dreifaltigkeit des Kopfschüttelns, Münder zusammengepresst, Arme vor der Brust verschränkt
Gab es dann auch; nämlich Möhrengemüse. Schmeckt auch gut, zumindest, wenn man nicht noch den perfekten Nachgeschmack von Ravioli auf der Zunge verspürt. Drei Kinder haben also keinen echten Appetit, die Eltern hingegen richtigen Hunger, weil sie eine Stunde geschnippelt und gekocht haben, statt eine Dose zu öffnen. Es ergaben sich Fronten, die aus der „Probiert wird“-Liga bestand, ihr entgegengesetzt die Dreifaltigkeit des Kopfschüttelns, Münder zusammengepresst, Arme vor der Brust verschränkt.
Und ich sehe noch heute die Gesichter meiner Eltern, die alles besser machen wollten als ihre Eltern, wie das alle Eltern wollen, aber natürlich wollen sie auch ihre Kinder erziehen, ihnen Werte vermitteln, und sie mit Möhrengemüse vollstopfen. Und natürlich griffen diese Eltern, Anfang der 80er Jahre, nicht zum Strafregister oder zum Struwwelpeter, sondern sie sagten: „Wir wünschen uns doch einfach nur ein gemütliches Essen mit der ganzen Familie.“
Oh. Das war harter Tobak, da brauchten sie nicht noch extra: „Wir sind nicht wütend, sondern nur enttäuscht“ anzuhängen. Denn wir waren ja auch enttäuscht. Wir wollten es auch gemütlich haben, mit allen zusammen, und Essen gehörte dazu, aber warum nicht jeden Tag Ravioli? Es folgte eine Zeit, die ich als vernebelten Übergang erinnere. Damals gab es jeden zweiten Tag Ravioli, abwechselnd dazu Nasi Goreng, sonntags Frikadellen. Herrlich.
Aber unter dieser bunten Decke aus Glück und Glutamat brodelte es; meine Mutter zweifelte daran, ob sie das Richtige tat, und schon bald sollte ihr klar werden: Nein. Richtig machten es die anderen, und das waren: Holtkamps. Die zogen nämlich damals, im Winter 1983, neben uns ein.
Zunächst stellten sie keinerlei Bedrohung dar – sie waren klein, wuselig, aufmerksam, eher beigebraun gekleidet, sehr rührig mit ihrem Nachwuchs. Gut, wir hielten sie für Erdmännchen, bis sie am Tag nach ihrem Einzug bei uns klingelten. Verdutzt stellten meine Eltern fest: Holtkamps konnten nicht nur sprechen, sie hatten sogar studiert. Heiner war Arzt, Hiltrud Hebamme. Außer Alliterationen hatten sie noch ein weiteres Hobby, nämlich: die Welt retten.
Einzug der vollwertigen Kost
Während mein Vater eher schwer zu beeindrucken ist, hatte meine Mutter durch den Einzug der Holtkamps das ersehnte Zeichen erhalten. Oder wollte zumindest höflich und weltoffen erscheinen. Und so wurden wir von Holtkamps mit auf Anti-Atom-Demos geschleppt, bekamen feierlich den Hefeteig „Hermann“ überreicht, durften unsere Körner in ihrer Getreidemühle mahlen, und ja, meine Geschwister und ich steckten irgendwann in Latzhosen und Birkenstocks. Dosenravioli wurden verbannt.
Plötzlich war alles aus Dinkel, sogar die Bettwäsche. Ich denke, wir Kinder hätten das irgendwie weiter mitgemacht, weil wir durchaus auch die positiven Seiten des ökologisch-bewussten Lebens sehen konnten: Ostermärsche waren ganz lustig, vor allem die Musik, Holtkamps fuhren mit uns an den See, wir veranstalteten Flohmärkte und malten fast jeden Tag Transparente.
Aber es war mein Vater, der irgendwann explodierte. Am Tag der Vollkornpizza. Die flog einmal durch die gesamte Küche, und als sie auf dem Boden landete, schnüffelte der Hund nur dran. Und biss nicht ab. Mein Vater schnaufte triumphierend, und bestimmte: „Gesund, gerne; Gemüse auch, aber: Pizza bleibt Pizza, und die mache ich von heute an. Ohne Vollkorn.“
Und so sollte es sein. Mein Vater hatte sich heimlich einem anderen Nachbarschaftskult angeschlossen, den Toskana-Deutschlehrer:innen. Bis heute, so glaube ich, meine Lieblings-Fachidiot:innen unter den Ernährungsmissionar:innen. Die Vorausetzungen waren perfekt (Lehrer:innen arbeiten halbtags) und die Zielsetzung bekannt: Alle essen an einem Tisch, und zwar mit Genuss.
Genuss war das Wichtigste, die italienische Antwort auf Gemütlichkeit.
Oh, Mann, was haben wir genossen: Natürlich wurde ein VW-Bulli angeschafft, und damit nach Italien gefahren. Dort wollten Nudelmaschinen und das gute Olivenöl erstanden werden. Ja, genau, damals gab es noch keine Supermärkte, die so etwas anboten. Da musste man für jede Flasche Öl einmal durch den Gotthard-Tunnel. War aber nicht schlimm, denn Lehrer:innen haben lange Ferien. In denen genießen sie. Zu Gianna Nannini-Platten, am offenen Kamin, in einem urigen Bergdorf. Wozu abends ausgehen, wenn man genug Wein im Haus hat?
Bin ich im Nachhinein froh, dass ich damals erst acht war. Um es kurz zu machen: Es waren schöne Zeiten, und diejenigen, die nicht dem Alkoholismus zum Opfer gefallen sind, haben zumindest ihren Lebensbedarf an Kohlenhydraten gedeckt. Dumm nur, wenn der Ausklang dieser Pasta-Ära genau mit dem Teenageralter zusammenfällt.
Brigitte-Diät versus gemeinsame Zeit als Familie am Tisch
Leider war es bei meiner Schwester und mir so: Direkt nach dem Dolce Vita begann unsere erste Brigitte-Diät. Und nein, es ist nicht ganz einfach, für die anderen Familienmitglieder etwas dazu zu kochen, es geht nicht. Es ist die Hölle. Generell kann man sich von dem Thema: „Schön gemeinsam am Tisch essen“ langsam verabschieden, wenn einem Familienmitglied auffällt: „Ich könnte mal ein oder zwei Kilo abnehmen“.
Aber wozu weit in die Zukunft blicken, und eine Vorschau darauf geben, wann es spätestens vorbei ist. Konzentrieren wir uns lieber auf die aktuellen Feinde des gemeinsamen, täglichen Familienessens, die überall lauern, z.B. im Job. Ja richtig, wenn ihr einer Arbeit nachgeht, die euch Freude macht, die sogar unregelmäßig oder gar abends stattfindet, dann ist euer Ritual nicht nur in Gefahr, sondern praktisch schon tot.
Und ja, ihr könnt es wiederbeleben, aber zu was für einem Preis: Ihr könnt eure Kinder nachts für ein spätes Frühstück wecken und eure sämtliche Freizeit dem Vorkochen und Einfrieren widmen. Alles eine Frage der Organisation, wie früher auf dem Bauernhof. Der Spaß hält sich aber in Grenzen, wenn man bei der ganzen Sache nicht wenigstens ein paar Ponys auf der Weide vorm Haus stehen hat.
Noch schlimmer ist es nur, wenn man keinen Job hat. Da fällt das Kochen schwer, mit all der Zeit, und wenig Geld. Weil man genau weiß, man hat die Zeit, jeden Tag. Und desto schlechter wird das Gewissen, wenn das Zubereiten der Mahlzeit nicht mindestens drei Stunden an Vorbereitung verschlingt. Die Gemütlichkeit geht spätestens dann flöten, wenn euer Kind euch erzählt, was es den ganzen Tag über gemacht, und ihr nur ein Wort darauf erwidern könnt, nämlich: „Eintopf“.
Die Wahrheit ist:
Egal, wie gut man es meint, oder auch macht, man droht immer wieder in die gleiche Falle zu tappen, nämlich nicht mehr ehrlich sagen zu können: Ich esse, um zu leben, sondern zugeben müssen: Ich lebe, um zu essen, aber wenigstens gemeinsam. Solltet ihr es tatsächlich schaffen, jeden Tag eure gesamte Familie an einen Tisch zu holen, ohne dass ihr euch ein Bein dafür ausreißen oder euren Job kündigen müsst, und sämtliche Mitglieder des Clans auch genüsslich essen, bis sie satt sind, sage ich: Herzlichen Glückwunsch! Du bist Superman, oder Wonder-Woman.
Für alle anderen sollte der Reiz des Besonderen gelten. Es gibt Wochenenden, da kann man schön zusammen frühstücken. Falls man rechtzeitig aufsteht. Und falls es da auch Terminschwierigkeiten gibt, dann haben wir da noch die Feiertage. Man muss nur vorher einkaufen, aber, wenn man das schafft, kann man den ganzen Tag kochen, zusammen, als Familie. Bei diesen Gelegenheiten stellt sich auch heraus, was der Einzelne so mag, und was nicht.
Vielleicht ergeben sich ganz unerwartet viel ungezwungenere Gespräche über das Alltagsleben der Kinder, oder des Partners:der Partnerin, falls vorhanden. Es kann dauern. Bis es anläuft, und auch, bis dann ein fertiges Gericht auf dem Tisch steht, aber: Alle werden es essen. Vielleicht klappt das zweimal in der Woche, vielleicht zweimal im Monat, vielleicht zweimal im Jahr. In jedem Fall wünsche ich guten Appetit!
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