Seine Mutter musste erst 80 Jahre alt werden, bis sich Fotograf Thomas Kierok ernsthaft für die Familiengeschichte zu interessieren begann. Was zunächst als Geschenk für Elsa begann, mündete in einen Roadtrip über 4.500 Kilometer, den Thomas mit seinen beiden Söhnen durch das Geburtsland seiner Mutter unternahm und dabei nicht nur ihr, sondern auch sich selbst näher kam.
Geboren wird Elsa Kierok im April 1937 in Tomești im heutigen Rumänien. Die Herkunft seiner Mutter, die Flüchtlings- und Halbwaisen-Vergangenheit beider Eltern war ihm natürlich bekannt, spielte aber im Familienalltag und in seinem Bewusstsein zumindest vordergründig keine Rolle.
Doch als Elsas 80. Geburtstag naht, erwacht in ihm das Bedürfnis, ihrer Lebensgeschichte und damit der eigenen Familiengeschichte mehr auf den Grund zu gehen.
Interview des Lebens
Ein befreundeter Journalist hatte schon einige „Lebensinterviews“ geführt und erscheint Thomas als Mensch, mit dem sich seine Mutter wohlfühlen und dem sie anders von ihrer Vergangenheit erzählen könnte als den eigenen Kindern.
So beauftragt er ihn, auch wenn zunächst durchaus Bedenken bestehen, ob dabei nicht vielleicht Erinnerungen und Traumata hochkommen, an die man besser nicht rühren sollte. In den Gesprächsterminen fließen dann auch einige Tränen, aber mit dem Ergebnis – einem „Interview meines Lebens“-Büchlein – fühlt sich Elsa gut verstanden.
Reise zu den Wurzeln
Der runde Geburtstag wird 2017 gebührend gefeiert, doch für Thomas ist die Geschichte damit noch nicht beendet. Das Interview bringt neue Einblicke ins Leben, Denken und Fühlen seiner Mutter – das Interesse ist geweckt, mehr über ihre Herkunft erfahren zu wollen.
Dass er das „Erfahren“ fünf Jahre später so wörtlich nehmen und mit seinen Söhnen auf einen dreiwöchigen Roadtrip durch das unbekannte Geburtsland seiner Mutter gehen würde, ahnt er zu dem Zeitpunkt noch nicht. Die Idee muss erst noch reifen – im Sommer 2023 ist es dann soweit.
Auf die Reise machen sich Thomas, Kolja und Mika zu dritt, doch gefühlt ist die inzwischen 86-jährige Elsa immer dabei. Sie telefonieren fast täglich mit ihr und schicken Fotos von all ihren Stationen.
Bei ihrem 80. Geburtstag sind Kolja und Mika noch Kinder und zeigen kein gesteigertes Interesse an der Lebensgeschichte ihrer Oma. Wie der inzwischen 17-jährige Mika heute sagt, war ihm und seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Kolja zwar diffus bewusst, dass es eine Fluchtvergangenheit in der Familie gab, aber sie hatten keine Vorstellung davon, was das bedeutet.
Auf die Reise machen
Mehr verstehen zu wollen, über seine Eltern, seine eigenen Kindheitsprägungen und nicht zuletzt über das Geburtsland seiner Mutter, ist die Triebfeder, die Thomas zu der Reise im Sommer 2023 führt.
Die Idee, drei Wochen Sommerurlaub in Rumänien zu verbringen, stößt allerdings nicht sofort auf uneingeschränkte Begeisterung bei seinen Söhnen. Mika, der Ältere und Abenteuerlustigere der beiden, ist schneller überzeugt, doch Kolja glaubt bis zwei Tage vor der Abfahrt nicht wirklich daran, dass sie tatsächlich aufbrechen.
So absurd und weit erscheint ihm der Trip per Auto ohne konkrete Route und eigentlich auch ohne ein richtiges Ziel durch ein gänzlich unbekanntes Land.
Rumänien als Reiseland
Während der Vorbereitung findet Thomas kaum Leute in seinem Umfeld, die Rumänien schonmal bereist haben und die Ausbeute an Reiseliteratur ist ebenfalls eher dürftig. So fahren sie ziemlich unvorbereitet von Berlin via Budapest los, das südosteuropäische Land zu erkunden.
Es gilt als sicheres Reiseland, diesen Eindruck teilen Thomas, Mika und Kolja, die sich zu keiner Zeit irgendwo unwohl fühlen. Ganz im Gegenteil – die ausgeprägte Gastfreundlichkeit der Rumän:innen beeindruckt vor allem die beiden Teenager nachhaltig.
Es klappt ohne Ausnahme reibungslos, sich spontan Airbnb-Unterkünfte zu organisieren und ihre Vermieter:innen versorgen sie stets mit hilfreichen Tipps. Die Appartments befinden sich meistens in Plattenbauten, aber alles hat einen ordentlichen Standard.
Das einzig Bedrohliche, das ihnen auf der Reise begegnet und wovor man man tatsächlich auf der Hut sein sollte, sind die unzähligen wilden Hunde, die in Rudeln durchs Land streifen.
Auch wenn Rumänien bereits seit 2007 der Europäischen Union angehört, verfügt es bis heute über eine eigene Währung, den Lei. Als Reiseland ist es vergleichsweise günstig, auch in der Hochsaison nicht überlaufen von Tourist:innen.
Mika ist ganz überrascht, dass er tatsächlich ein paar Worte Rumänisch verstehen kann, als einzige romanische Sprache im ehemaligen Ostblock ist sie dem Italienischen verwandt. Noch verwunderter sind sie, wie viele Menschen Deutsch sprechen und dass sie etliche zweisprachige Straßenschilder im Laufe ihrer Reise entdecken.
Es gibt eine rumäniendeutsche Minderheit, die – obwohl sie nur einige Zehntausende Angehörige zählt – einflussreich und beliebt ist. Auch der seit 2014 amtierende Präsident Klaus Werner entstammt ihr.
Eine der ersten Stationen von Thomas, Kolja und Mika in Rumänien ist die drittgrößte Stadt des Landes: Temeswar, auf Rumänisch Timişoara, in der seit 2020 mit Dominic Fritz ein gebürtiger Deutscher Bürgermeister ist.
Die gelebte Multikulturalität in dieser westlichsten Großstadt, die ebenso wie andere Regionen des Landes stark multiethnisch geprägt ist, zieht die drei Reisenden von Beginn an in ihren Bann.
Kulturell, kulinarisch und landschaftlich unglaublich vielfältig, gibt es in Rumänien von den Bergwäldern der Karpaten über das sagenumwobene Siebenbürgen, das einzigartige Donaudelta, die Traumstrände am Schwarzen Meer, die Weite der Walachei bis zur – einst „Paris des Ostens“ genannten – Hauptstadt Bukarest viel zu entdecken.
Grenzen verschieben sich
Zig Millionen Menschen in Deutschland tragen Erfahrungen mit Flucht, Verfolgung, Vertreibung und Heimatverlust in sich. Geht man davon aus, dass sich diese Traumata über Generationen in den Familien auswirken, potenziert sich die Zahl schnell.
In Zeiten, in denen Krieg und Flucht wieder beherrschende Themen sind, hält Thomas es für umso wichtiger, Zeitzeug:innen wie seiner Mutter zuzuhören, ihre Erfahrungen und Erinnerungen zu bewahren und weiterzugeben. Auch in Elsas Lebensgeschichte spiegeln sich viele Aspekte der deutschen Geschichte der letzten Jahrhunderte wider.
Ihr Geburtsort Tomești liegt heute im Südosten Rumäniens an der Grenze zur Republik Moldau. Während der Habsburger Monarchie wird diese Region, die Bukowina, Ende des 18. Jahrhunderts gezielt kolonialisiert. So wie Elsas Großeltern ziehen viele Familien in langen Trecks Richtung Osten und siedeln sich dort an.
Ihre Familie bringt es rasch zu einigem Wohlstand. Elsas Vater Joseph verdient als selbständiger Kutschenbauer gutes Geld, ihr Onkel betreibt eine Kunstschmiede. Sie hat nur wenige Erinnerungen an diese ersten Lebensjahre, doch es ist eine heile Welt, die sie 1940 urplötzlich hinter sich lassen muss.
Flucht als Kind
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verlassen sie die Bukowina, die von der Sowjetunion besetzt wird, und flüchten nach Österreich. Die dreijährige Elsa glaubt zunächst, dass es nur vorübergehend sei und sie bald in ihr Zuhause zurückkehren würde:
„Ich hatte einen selbstgebauten Schlitten mit Hörnern. Im Flur stand eine lange Truhe. Als wir auf die Flucht gingen, habe ich den Schlitten in die Truhe gelegt, sie abgeschlossen und den Schlüssel mitgenommen. Damit ich den Schlitten habe, wenn wir zurückkommen. Als Kind hat man noch nicht begriffen, dass es kein Zurück gibt.“
In Graz leben sie zwei Jahre lang in einem Lager, zu fünft in einem Zimmer: Mutter, Vater, Onkel, Elsa und ihre jüngere Schwester Olga. 1942 werden sie in die annektierten Gebieten in Polen umgesiedelt. In Posen entwickelt sich kurz wieder ein normales Leben mit eigenem Haus und Werkstatt des Vaters, bis dieser 1943 eingezogen wird.
Elsa, eigentlich ein totales Vaterkind, wie sie selbst sagt, wird ihn ein Jahr später bei einem kurzen Heimatbesuch von der Front das letzte Mal wiedersehen, er kehrt nicht aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurück. Im Januar 1945, als die sowjetische Armee vorrückt, muss ihre Mutter mit den mittlerweile drei Kindern erneut, diesmal noch viel überstürzter, auf die Flucht gehen.
„Es war sehr kalt, klirrende Kälte, im Januar 1945. Es hat geschneit. Pullover über Pullover, Anorak, alles was gepasst hat, wurde uns angezogen. Mutti hatte zwei Federbetten, die sie ganz eng zusammengerollt hat, im Kinderwagen. Dieter war ja erst ein Jahr alt.
Der Kinderwagen und zwei Koffer. Einen hat sie später stehen lassen, weil sie es nicht mehr geschafft hat. Mutti hat zwei Windeln genommen und uns Schwestern links und rechts an ihre Arme gebunden. Sie hatte panische Angst, uns zu verlieren. Fünf Tage fuhren wir mit dem offenen Güterwaggon quer durch die Landschaft. Die Erwachsenen mussten stehen, wir Kinder durften auf dem Boden sitzen. Überall Flüchtlinge, ein Geschrei und Gestöhne.“
Über mehrere Zwischenstationen landen sie in Weimar, von wo Elsa als junge Frau Thomas‘ Vater nach Hamburg folgt, wo sie sich – erneut Flüchtlinge – eine neue Exstenz erschaffen und wo sie bis heute lebt.
Der Geburtsort
Bevor er sich während der Reise richtig auf das Land einlassen kann, zieht es Thomas zu dem Ort, von dem er nicht mehr weiß, als dass er im Ausweis seiner Mutter als Geburtsort eingetragen ist. Es gibt weder eine Adresse noch Fotos, keinerlei Anhaltspunkte, wo die Seemanns, so Elsas Geburtsname, einst gelebt hatten.
Thomas weiß nicht genau, was er sich in seinem Inneren eigentlich vorgestellt und romantisiert hatte, aber irgendwie ist es ernüchternd, ziellos durch die nichtssagenden Straßen Tomeștis zu fahren. Schließlich halten sie an einer kleinen Dorfkirche. Doch sowohl dort als auch auf dem Friedhof sucht er vergeblich nach Hinweisen auf den Familiennamen seiner Mutter.
Als Thomas bewusst wird, dass es gar nicht der konkrete Ort ist, nach dem er auf der Suche ist, sondern die Geschichte dahinter, dass es ihm darum geht, Verbindung zu dem Land aufzunehmen, kann er sich befreit auf die weitere Reise machen.
Draculas Schloss und andere sagenhafte Orte
In der Familie werden gelegentlich Scherze über Omas Herkunft aus Transsilvanien gemacht. So unbekannt Rumänien vielen als Reiseland ist, so weltberühmt ist die Sagengestalt Dracula, die auf den in Schäßburg (Sighișoara) geborenen Fürsten Vlad Țepeș zurückgeht.
Die Burg Bran in Siebenbürgen ist der Pilgerort für alle Dracula-Fans. Spannend für historisch Interessierte sind auch die mystischen Klöster in der Bukowina und die farbenfrohen mittelalterlichen Städte wie Hermannstadt (Sibiu) in der geografischen Mitte Rumäniens, wo Thomas, Mika und Kolja einen Halt einlegen.
Die von deutschen Siedler:innen im 12. Jahrhundert errichtete Stadt gilt als die schönste des Landes, bekannt für seine historische Altstadt.
Beeindruckende Begegnungen
Fragt man Mika und Kolja danach, was sie während der Reise am meisten beeindruckt hat, erzählen beide begeistert von ihrem Tagesausflug von Tulcea aus mit einem Speedboot entlang des Donaudeltas. Der zweitlängste Fluss Europas fließt durch das sich über 5.800 Quadratkilometer erstreckende Delta ins Schwarze Meer.
Das artenreiche Biosphärenreservat ist UNESCO-Weltnaturerbe und steht unter Naturschutz, dort begegnen sie auf der Bootstour Pelikanen, Weißkopfadlern, Delfinen, wilden Pferden, unzähligen exotischen Vögeln, uralten Bäumen und Fischer:innen, die dort die Saison über in Hütten leben.
Schwer beeindruckt hat sie auch ihr Guide, zugleich ihr Airbnb-Vermieter – eine faszinierende Persönlichkeit, der als Kapitän mehrere Jahre auf den Weltmeeren unterwegs war und alles verkörpert, was für Kolja die rumänische Mentalität ausmacht: weltoffen, vielsprachig, unterhaltsam, ein bisschen Machismo, dabei aber immer selbstironisch, sich mit einem Augenzwinkern selbst nicht zu wichtig nehmend.
Am nächsten Tag lesen sie in den Nachrichten, dass ein Getreidelager in der Ukraine in nur fünf Kilometer Entfernung zu ihrem Appartement vom russischen Militär bombardiert wurde. Dieser sehr reale Bezug zum stattfindenden Krieg mitten in Europa ruft ihnen die schlimmen Kriegs- und Fluchterfahrungen Elsas sehr einprägsam in Erinnerung.
Kolja ist beeindruckt, mit welcher Gelassenheit die Rumän:innen selbst mit dem nahen Krieg umgehen. Als Nato-Mitglied mit der längsten Grenze eines europäischen Staates zur Ukraine stünde das Land bei einer Ausweitung des Krieges an vorderster Front.
Unterschätztes Land
Als Vater und Söhne in der Küstenstadt Constanța, die auf eine über 2.000-jährige Geschichte zurückblickt, am Schwarzen Meer stehen, sind sie von der Größe des Binnenmeeres überrascht, das sie sich eher wie die Ostsee vorgestellt hatten.
Rumänien sei eh in vielerlei Hinsicht unterschätzt, eigentlich ein „Hidden Champion“, sagt Thomas. Das Land hat nach 1990 eine positive wirtschaftliche Entwicklung genommen.
Allerdings bestehen nach wie vor große Probleme mit Korruption und Armut, die Vergangenheit des Regimes mit Securitate-Geheimpolizei und Ceaușescu-Personenkult erscheint Thomas in Gesprächen nicht sonderlich gründlich aufgearbeitet.
Megalomanie in Bukarest
Rumäniens Hauptstadt hat zahlreiche Sehenswürdigkeiten aus den verschiedensten Epochen zu bieten, aber wenn sie von dem unfassbar gigantischen Parlamentspalast erzählen, den sich die Ceaușescus über Jahre von Tausenden Arbeitskräften haben errichten lassen, sprudelt es nur so aus Mika und Kolja heraus.
Sie können nur einen Bruchteil der 365.000 Quadratmeter Geschossfläche besichtigen, mit einer Mischung aus Staunen und Schrecken ob solchen Größenwahns. Es ist quasi unmöglich, das ganze Gebäude mit seinen fußballfeldgroßen Teppichen, tonnenschweren Kronleuchtern und imposanten Gemälden an einem Tag zu erlaufen.
Ihre Unterkunft in der Hauptstadt illustriert ein weiteres Mal die Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit der Rumän:innen. Thomas hatte zuvor während eines Coaching-Seminars die Rumänin Alina kennengelernt und eher spaßeshalber angekündigt, er würde sie dann in Bukarest besuchen kommen.
Im Leben hätte er nicht damit gerechnet, dass sie ihm dann die Wohnung ihrer Eltern, die den Sommer in ihrem Landhaus verbringen, überlassen würde. Und wieder fühlt es sich an, als sei Elsa irgendwie dabei – die Einrichtung erinnert Thomas extrem an die seiner Mutter.
Im Rückblick
Auf ihrem Roadtrip liegen noch viele weitere Stationen, von überall nehmen sie neue Eindrücke, Erfahrungen und auch ein paar Erkenntnisse mit.
„Man lebt ja immer vorwärts und erklärt sich das Leben dann rückwärts“, sagt Thomas, der für sich einiges aus dieser Spurensuche mitnimmt:
„Die Reise war für uns wie ein ruhiger Fluss. Wir sind unterwegs gewesen, haben uns und Rumänien ein wenig mehr kennengelernt. Es war eine Reise für und mit meiner Mutter, auch wenn sie physisch nicht dabei anwesend war. Sie war aufgeregt und hat sich gefreut.
Und gleichzeitig ist eine Ruhe und Gleichmäßigkeit in mein Leben gekommen. Ich fühle mich ein Stück weit angekommen. Ein unbekannter Teil meines Lebens ist entdeckt und beleuchtet worden. Vielleicht sind die Schatten der Vergangenheit aufgehellt worden.“
In zufrieden steckt Frieden
Im Rückblick auf ihr Leben sagt Elsa im letzten Satz des Buches: „Ich bin zufrieden.“ Anfangs findet Thomas dieses kleine Fazit zu bescheiden, zu wenig. Heute, nach seiner Reise, sieht er das anders, steckt darin doch, seinen Frieden mit der Vergangenheit zu machen.