Alljährlich kürt die Stiftung Buchkunst in fünf Kategorien die „Schönsten Deutschen Bücher“ – darunter auch fünf Kinder- und Jugendbücher, die herausragend gestaltet sind.
Mit ihren Wettbewerben will die Stiftung Buchkunst den Blick der Öffentlichkeit über den Inhalt hinaus auf buchgestalterische und buchherstellerische Spitzenleistungen lenken und damit dem Medium Buch und seiner Form zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen. Zur Teilnahme zugelassen sind Bücher aus deutschen Verlagen sowie Bücher aus ausländischen Verlagen, sofern die technische Produktion ausschließlich in Deutschland erfolgte.
Zwei Expertenjurys wählten in einem aufwändigen Verfahren aus 633 eingesandten Titeln – jeweils fünf aus fünf Kategorien. Die Kategorien sind „Allgemeine Literatur“, „Wissenschaftliche Bücher/Fachbücher/Schul- und Lehrbücher“, „Ratgeber, Sachbücher“, „Kunstbücher, Fotobücher, Ausstellungskataloge“ und „Kinderbücher, Jugendbücher“. Die 25 ausgewählten Bücher sind vorbildlich in Gestaltung, Konzeption und Verarbeitung und zeigen eine große Bandbreite gestalterischer und herstellerischer Möglichkeiten.
Hier die fünf „Schönsten Deutschen Bücher 2021“ für Kinder und Jugendliche:
Riesiger Wimmel-Leporello-Zahlen-Spaß!
Tom Eigenhufe/Alfred Brouët: Sonnige Grüße aus Ziffernhausen, 6-Meter-Leporello-Wimmel-Bilderbuch zum Ziffern lernen, 24 Seiten, Edition Hammeraue, bei eurem Lieblingsbuchladen vor Ort, direkt beim Verlag oder bei Amazon* bestellbar
Begründung der Stiftung Buchkunst-Jury
Wer nur bis drei zählen kann, dürfte sich glücklich schätzen – wenn er zum Studium der Ziffern von Eins bis Null dieses vergnügliche Lernbuch zur Hand nehmen könnte.
Eine gestrichelte Linie weist die gelbe Straße als Parcours aus, der sich durch eine grüne Landschaft windet und sich am Ende als Leporello entfaltet hat: auf einem prächtigen, sechs Meter langen, matten und stark gefaserten Karton. Auf zwanzig Ereignisdoppelseiten gilt es, Ziffern und die dazugehörige Anzahl von Objekten zu entdecken.
In der Ästhetik eines vielfarbigen Linolschnittes sind die Formen ganz leicht versetzt; dadurch entsteht das reizvolle Blitzen oder Übereinanderdrucken von Kanten. Das anregende, grafisch auskomponierte Spiel zwischen großzügigen Flächen und kleinsten Details spornt den Sammlerehrgeiz an; manche Figuren – Eule, Kuh, Maulwurf – tauchen nämlich immer wieder auf, als Running Gag sozusagen.
Halten wir mal an dem Abschnitt mit der irrsinnig verschlauften Straße inne. Es geht um die Fünf. 5 Wölkchen, 5 Berge, 5 Gänse, 5 Blümchen, 5 Schnecken, 5 Maulwurfhügel und Maulwürfe, 5 Sonnenschirme, 5 Häuser, 5 Bäumchen, 5 Feuerwerksterne, 5 Flecken auf der Kuh mit 5 Zitzen, 5 Kabinen am Riesenrad, 5 Besucher im Aussichtsturm, 5 Räder am Auto, 5 wacklig gestapelte Limokrüge, 5 Finger einer Hand, 5 Kerzen auf Torte, 5 Luftballons, 5 wirbelnde Frauen – und 25 Mal die Fünf als Ziffer. Fast übersehen: 5 Schleifen dreht der Parcours.
Die Schrift für Titelei und Anhang könnte kaum besser in dieses Wimmelbuch passen: Es ist die Kartoffel pro.
Was isst du da?
Julia Dürr: Wo kommt unser Essen her? gebunden, 40 Seiten, Beltz & Gelberg, 14,95 Euro, bei eurem Lieblingsbuchladen vor Ort, bei genialokal*, dem Onlinehandel der Buchhandlungen, oder bei Amazon* bestellbar
Begründung der Stiftung Buchkunst-Jury
Die industrielle Produktion von Lebensmitteln, insbesondere das Tierwohl, ist ein brisant gewordenes Thema. Zur Zeit brodelt es an allen Enden der Argumentationsketten. Deshalb ist es fast schon ein politisches Projekt, in einem Kinderbuch die Frage zu überdenken: Wo kommt unser Essen her?
Den Einbandtitel des flachen Großformats kann man als Cartoon lesen: ein lässiger Kindergriff in den Kühlschrank – als Bildantwort auf die tiefschürfende Titelfrage. Wenn man hier den kulinarischen Vorrat überprüft, fällt die alltägliche Mischung auf, in der weder Junkfood noch Veganes den Einkaufszettel dominieren.
Das darf als Hinweis für den unvoreingenommenen Blick der zeichnenden Autorin gelten. Sie konstruiert keine Polaritäten von Handwerk/Maschinenhölle oder Bio/Chemie – nein, sie nutzt zur differenzierenden Darstellung Kleinbetriebe und Großbetriebe, die sich auf den Doppelseiten gegenüberstehen. Man schaut wie durch gläserne Wände in Gebäude, und alsbald offenbaren sich die Betriebsabläufe. Ob Fischfarm oder Schlachterei: deskriptiv statt moralisierend.
Auf einer linken Seite findet die Arbeit in der Backstube statt, wenn der frühe Morgen noch dunkel ist. In der Backfabrik rechts daneben ist ein Spiralkühler der Blickfang, der sofort den Mengenunterschied zur Stube klarmacht. Illustrative und informative Bildwerte gehen ineinander über. Pastellfarbenes Kolorit der Flächen unterstützt die räumliche Wirkung von Objekten und Gebäuden. Langsam erahnt man am didaktischen Ausmaß von Konzept und Bildkomposition, dass aufwendige Recherchen vorangegangen sind.
Sleep well in your Bettgestell
Finn-Ole Heinrich/Dita Zipfel/Tine Schulz: Schlafen wie die Rüben, 32 Seiten, mairisch Verlag, 15 Euro, bei eurem Lieblingsbuchladen vor Ort, bei genialokal*, dem Onlinehandel der Buchhandlungen, oder bei Amazon* bestellbar
Begründung der Stiftung Buchkunst-Jury
Am Ende eines aufregenden Tages sind die Kinderchen oft zu aufgekratzt, um ruhig im Bett zu liegen ¬– und freilich zu müde, um weiterzutoben –, während die Eltern ebenfalls vor der Verdauung unsortierter Tagesereignisse stehen. So ähnlich stellt sich die familiäre Ausgangslage in diesem Buch dar. Ab jetzt wohnen wir der Aufführung eines exzentrischen Einschlafrituals bei.
Ziemlich unvermittelt purzeln wir in das reinste Tohuwabohu. Surreale Verse stacheln die Bildszenen auf, hier eine Kostprobe: „Licht an, Tür auf, gute Schnute. Am Himmel gähnt die Dunkelheit, wir löffeln Socken in den Schlaf … der Nachtsichtbrille Witze schnitzen”. Die aktiven Illustrationen auf den dreifarbigen Panoramaseiten basieren auf starken Kontrasten: Hell/Dunkel, Papierweiß/Farbflächen, Schwarz mit kühlem Blau und feurigem Rot.
Aber stopp: Die kleine Protagonistin hält inne, liegt bäuchlings auf der Matratze, balanciert mit angehobenen Füßen den Familienhund (der sich seinerseits rücklings schlafend entspannt) und verdreht grüblerisch die Augen: Da stimmt was nicht mit dem Ritual – alles noch mal von vorne. Ab jetzt reimen sich die Verse, denn so lässt sichs gesitteter kitzeln und hüpfen: „Ne Prise Zucker auf die Füße! Das gibt der Dunkelheit die Süße. Danach ölen wir die Socken, das macht extraschöne Locken.”
Ein raffiniertes pädagogisches Konzept: In der dritten Stufe der Deeskalation gibt es weiterhin bildliche Turbulenzen, die Reime signalisieren hingegen eine deutliche Abnahme der Energie: „Kissen schütteln, Decke heben und dann Richtung Mulde schweben.”
Broken Heart
Lucia Zamolo: Elefant auf der Brust. Warum sich Liebeskummer lohnt, Flexocover, 128 Seiten, Bohem, 15 Euro, bei eurem Lieblingsbuchladen vor Ort, bei genialokal*, dem Onlinehandel der Buchhandlungen, oder bei Amazon* bestellbar
Begründung der Stiftung Buchkunst-Jury
Liebeskummeralarm! Empfindungen und Gedanken schwappen verwirrend hin und her; wo sie nicht in Worte zu fassen sind, erscheinen sie als Bilder. Indem die Zeichnerin und Autorin den Stift auch für den Text nicht aus der Hand legt, entwickelt sich eine Art Tagebuch über eine frisch enttäuschte Liebe.
Man kann beim Lesen des Selbstgespräches geradezu mitfühlen, wie sie das verzweifelte Winden und Drehen ihrer Innenwelt mit der handgeschriebenen Schrift nach und nach in eine Trostgeschichte verwandelt. Innerhalb der Sätze wechselt sie von Schreibschrift über Druckschrift zu Großbuchstaben – alles handgeschrieben. Darin drückt sich – ebenso wie im Variationsreichtum der Schriftgrößen – die stumm gesprochene Dynamik des Textes aus.
Eine besonders rührende Doppelseite mag beispielhaft für den empathischen wie gleichermaßen analytischen Gehalt des Buches stehen: Während der Bildtext die Fakten zum Broken-Heart-Syndrom in Alltagssprache referiert, verzaubern nur wenige Linien die Illustration eines Herzens in die Allegorie des Herzschmerzes.
Auf der schematischen Farbfläche deuten feine, weiß ausgekratzte Haarlinien Muskelfasern an. Eine der beiden Herzhälften in blassem Rosa lässt ihren Arm schlapp runterhängen (er korrespondiert mit der Gestik der Hauptschlagader), mit traurigem Gesichtchen kuschelt sich die kräftig rote Hälfte an sie heran. Allein schon für dieses Bild hat sich der Liebeskummer gelohnt.
Geografische Schatzkarten
Volker Mehnert/Martin Haake: Die großen Flüsse der Welt, ab 8 Jahren, gebunden, 40 Seiten, Gerstenberg Verlag, 07/2020, 25 Euro, bei eurem Lieblingsbuchladen vor Ort, bei genialokal*, dem Onlinehandel der Buchhandlungen, oder bei Amazon* bestellbar
Begründung der Stiftung Buchkunst-Jury
Im opulenten Format eines Folianten öffnen sich die Landkarten von Donau, Mississippi, Kongo und Mekong. Mittendrin verdoppeln Ausklappseiten sogar die Karte des Nil, damit auch das Alte Ägypten zu Ehren kommt. Das Blau des jeweiligen Flusslaufs und die Grün- oder Beigetöne der Landflächen bilden das Bühnenbild für landestypische Szenerien. Die Erläuterungstexte stehen wortwörtlich im Hintergrund.
Woher rührt die Faszination der Gesamtwirkung? Eine kurze Analyse der Bildkomposition ergibt, dass immer ein oder zwei größere Hauptfiguren die Ankerpunkte der Blickführung sind. Diese, wie auch alle weiteren Einzeldarstellungen, sind als Collagen aufgefasst, wie aus Farbpapier geschnittene Schablonen mit eindeutigen Konturen. Die vom Frostwind gekämmte Struktur des Braunbärenfells aus parallel geschwungenen Linien kehrt einige Seiten später in der Strömung der Wasserfälle von Iguazú wieder. Jede Vignette ist ein eigenes Illustrationskunstwerk, jedes besitzt die gleichbleibende Detailfreude.
Entscheidend für die Lebendigkeit der Karten ist es, dass kleinere Einzelbilder nach unten skaliert werden – und nicht nach Lehrmeinung, von vorneherein im gleichen Verhältnis zur Endgröße gezeichnet worden sind. Dadurch entstehen unterschiedliche Maßstäbe auf derselben Karte. Deshalb möchte man mit dem Finger pulend und den Kopf vorstreckend, von der Haptik des Kartons gebannt, in die geografischen Schatzkarten regelrecht reinkriechen. Dann erst zieht man die Legenden zurate, dann stimmt auch wieder deren kleiner Schriftgrad. So wird aus einem Wimmelbuch ein Entdeckerbuch.
Mehr zum Wettbewerb unter stiftung-buchkunst.de