Wir haben drei Familien bei Führungen durch ihre Stadt begleitet und festgestellt: Kinder sind empfänglich für die weitreichende Geschichte Berlins und eine Stadtführung muss keine mit Regenschirmen durch die Massen marschierende Busreisegruppe sein. Mehr noch: Für die Kinder sind die Schönheit und Komplexität dieser Stadt kein Widerspruch.
Drei familienfreundliche Stadtführungen
Berlin ist ein Geflecht – ein unübersichtliches Wirrbild mit der Detailtiefe eines Mikrokosmos. Einander untertunnelnde U-Bahnschächte, Katakomben und Luftschutzbunker liegen in verwehtem Brandenburger Sand unter verkanteten Schichten die Kriegstrümmer; darüber wiederaufgebaute Altbauten und instandgehaltene Neubauten, überfüllte Umsteigebahnhöfe mit überklebten Posterwänden und Fahrradleichen; 800 Jahre Stadtgeschichte von den mittelalterlichen Grundmauern bis an die Spitze der Antenne des Fernsehturms, 368 Meter über dem Alexanderplatz.
Die Stadt zum Reden bringen
Doch nicht nur touristisch-museale Sehenswürdigkeiten und Gedenkstätten wie das Mauerstück der East-Side-Gallery oder die Theaterkulisse des Nikolaiviertels lassen geschichtlich tief blicken. Hier und da entlocken Schautafeln den schweigenden Steinen ihre Erzählung. Was die Stadt ganz anders zum Reden bringen kann, ist eine Stadtführung.
Denn Stadtgeschichte lässt sich nicht nur an den historischen Epizentren erfahren. In jedem Kiez, jedem Häuserblock, stecken Ansichten auf die Vergangenheit, die, unentschlüsselt, ihrer Nachwelt verloren gehen. Darum haben wir uns Fachleute gesucht, die uns die Stadt in Worte fassen – die Stadtführer.
Kinderfreundliche Stadtführung No. 1: Mit Thomas durch die historische Mitte Berlins
Kindertouren Berlin, Dauer: ca. 70 Minuten, T: 0152-08883002, www.kindertouren-berlin.de
Stadtführer Thomas Frey arbeitet hauptsächlich im Bundestag, wo er regelmäßig Besuchertouren anbietet. Aber der viersprachige Guide macht auch private Touren – am liebsten mit Kindern, ob Oma-Enkel-Gespann oder mit der Kita-Gruppe.„Angefangen habe ich als Rikscha-Fahrer für Touristen. Dabei wird man ganz automatisch Stadtführer. Später war ich dann auch zu Fuß, im Bus oder mit dem Kanu unterwegs.“ 17 Jahre arbeitet er schon in seinem Metier: „Mittlerweile bin ich selbst fast ein Zeitzeuge.”
Warum nicht mal Tourist in der eigenen Stadt spielen?
Heute trifft er Gabriele, Jan und ihre beiden Söhne Jascha (13) und Milos (9) an der Nikolaikirche. Das Nikolaiviertel ist so etwas wie die Puppenstube Berlins. Die Bürgersteige vor den Bürgerhäusern sind sauber wie in einem Freilichtmuseum, die Tischdeckchen auf den Terrassen sind glattgestrichen und mit Fischmessern eingedeckt. Eigentlich verirren sich nur Touristen hierher. Aber warum nicht mal Tourist in der eigenen Stadt spielen? Das hat sich auch die Familie gedacht, als sie sich an diesem Sommernachmittag erstaunt umsieht. Milosch fragt seine Mutter überrascht: „Waren wir hier schon mal?“
Plötzlich steht man in einem Berlin aus einer ganz anderen Zeit, zurechtgemacht, ohne Gebrauchsspuren. Damit sich der Zusammenhang erschließt, ist Guide Thomas zur Stelle, dem die Kinder gespannt lauschen. Es ist wohl seine ruhige und geduldige Art, er stellt sich auf das Tempo seiner Zuhörer ein, hetzt nicht von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten, denn zu erzählen gibt es überall genug – und er macht lieber kurze Touren als jemanden zu ermüden.
Thomas erklärt den beiden Jungs, wie Berlin hier im 13. Jahrhundert seinen Anfang nahm: „Wir stehen vor der ältesten verbliebenen Kirche der Stadt. Seht mal wie viele verschiedene Steine da verbaut sind!“ Ihre Blicke wandern von den grob behauenen Feldsteinen nach oben, über die säuberlich geschichteten Ziegelsteine bis hin zu den goldenen Kugeln auf den Turmspitzen. Geschichte kommt von Schichten, das ist hier besonders anschaulich.
Flugs hat er einen historischen Stadtplan in der Hand und lässt die Brüder suchen, wo wir eigentlich gerade stehen. „Top! Genau da“, beglückwünscht er Jascha, der die Kirche an der Spree auf der Karte der mittelalterlichen Festung ausgemacht hat. Man kann leicht erkennen: Verglichen mit dem ausgewucherten Fladen, den wir heute Berlin nennen, war die Stadt damals ein kleiner Klecks. Ein bisschen testet er das Schulwissen der Jungs. Aber Noten werden hier nicht verteilt. Und was man nicht weiß, darf man ungeniert erfragen.
An der stacheligen Drachentöter-Statue an der Spree, wo die Ausflugsdampfer in der Abendsonne tuckern, lässt der Stadtführer schätzen, wie alt die Häuser hier wohl sind. Jasha und Milosh ahnen, dass er sie hinters Licht führen will. „Dieses Viertel gehörte zu Ost-Berlin. Nichts hier ist so alt wie es aussieht. Das Viertel wurde erst 1987 zur 750-Jahr-Feier der Stadt wieder hergerichtet.“
Und er zeigt den Jungs, wo die Städteplaner geschickt zuckergussfarbene Plattenbauten im Biedermeier-Format zwischen die alten Bürgerhäuser geschmuggelt haben. Was manche Erwachsene für Allgemeinwissen halten, muss für die heranwachsende Generation nicht selbstverständlich sein: „Plattenbauten kann man wie Lego-Häuser zusammenbauen. Das ist günstig und darum war das Wohnen da auch ganz billig.“
Geschichte wird gemacht.
Ost-Berlin ist den Kindern ein Begriff, hier ist Jan, ihr Vater, großgeworden. Und so macht es auch Sinn, dass der Papa etwas über das Stadtschloss und den Palast der Republik erzählen soll, als sie auf der Rathaus-Brücke stehen. Der Palast der Republik, zu Zeiten von Jans Kindheitsalltag ein zentrales Bauwerk, ist heute nur noch ein verblassendes, bronzefarbenes Bild. Das neue Schloss dürfen die Kinder, die hier mit Blick über das Wasser die Beine baumeln lassen, mit dem Original auf einem Foto vergleichen.
Die Stadt besteht aber nicht nur aus historischen Gebäuden. Geschichte wird gemacht, und dabei lässt Thomas die Jungs auch zuschauen. An der Baustelle der U5 am Roten Rathaus blicken Milosch und Jascha auf die Schautafeln, die erklären, wie eigentlich ein U-Bahntunnel gefräst wird, ohne dass es oben jemand mitbekommt: „Zehn Meter pro Tag frisst sich die Maschine unterhalb Unter den Linden entlang“, erklärt Thomas und sucht im Bauzaun nach einem Guckloch, während die Familie Richtung Neptunbrunnen schlendert.
Thomas schafft es, die Kinder nicht mit Fachsimpeleien oder Jahreszahlengeratter zu lähmen. Eher verbindet er Wissenswertes mit Spannendem, macht die Kinder (und nicht nur die) neugierig, Berlin weiter zu entdecken. Die Familie schreibt sich den Besuch auf dem Fernsehturm auf ihre To-Do-Liste, zu lange schon hat sie sich ein paar Highlights aufgespart. Nicht zu spät ist die Tour vorbei.
Lasst die Kinder die Fragen stellen – Erwachsene sind oft so voreingenommen!
Thomas hatte nicht die Absicht, der Familie jeden Winkel der Gegend zu zeigen. Vielmehr hat er es geschafft, den beiden Brüdern zu vermitteln, wie viel verborgene Information unter der sichtbaren Oberfläche steckt. Das sind Denkanstöße, Aufforderungen zum Weiterfragen. Jasha und Milosh werden aus diesem Stadtrundgang einiges an Wissen mitnehmen. Aber vor allem: Aufmerksamkeit für ihre Stadt.
Kinderfreundliche Stadtführung No. 2: Mit dem Kater Socks durch den Prenzlauer Berg
Der Kater vom Helmholtzplatz, Hörspiel von stadt-im-ohr.de, Ausleihe: MACHMit!-Museum, Senefelder Str. 5, 10437 Berlin-Prenzlauer Berg. Dauer: 50 Minuten Sprechzeit, man sollte aber eher zwei Stunden einplanen und sich einen ruhigen Tag aussuchen, an dem auf dem Helmi kein Markt stattfindet.
Wir treffen Philipp, Sylvie und ihre Töchter Anna (13) und Paula (9) vor dem schönen Backsteinbau in der Senefelder Straße. Das MACHmit!-Museum ist seit ellenlanger Zeit eine Institution im Kiez. Für Familien aus den umliegenden Bezirken führt hier früher oder später kein Weg dran vorbei. Die natürliche Portion kindliche Neugierde trifft in den Räumen des Museums auf die ausdrückliche Einladung, selbst aktiv zu werden, zum Beispiel in der Druckerei oder im Spiegelkabinett.
Kopfhörer auf und Play!
Hier waren wir schon öfter“, sagt Sylvie, „aber dass man hier ein Hörspiel ausleihen kann, wusste ich nicht.“ Hier befindet sich nämlich auch die Ausleihstation für einen Audio-Stadtrundgang durch den Helmholtz-Kiez. Stadt im Ohr heißt die Berliner Firma, die seit etwa zehn Jahren Hörspiele zum Mitlaufen produziert, aus einer Mischung aus Zeitzeugenberichten und Ortsbeschreibungen, Fiktion und Geschichtsunterricht. So entdeckt man die Stadt mit spannenden Erzählungen selbst.
Eines der Hörspiele ist ausdrücklich für Kinder. „Ich hätte nie daran gedacht, eine Stadtführung durch unseren eigenen Kiez zu machen“, meint Philipp. Er und seine Frau Silvie leben schon seit 2001 am Helmholtzplatz, beide Töchter sind hier geboren. Man könnte meinen, sie kennen hier jeden Stein. Denkste – alle vier werden an diesem Nachmittag noch eine Menge über ihre Nachbarschaft erfahren. Wie es funktioniert, haben sie gleich begriffen: Kopfhörer auf und Play!
Zeitzeugen sind unersetzlich.
Das Wissen solcher Zeitzeugen, die Berlin noch vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg gekannt haben, ist unersetzlich: Die bucklige Erhebung, auf der der Platz immerhin fast drei Meter über der Straße liegt, wo heute bunte Horden über den Flohmarkt wuseln, war einst Standort einer Windmühle. Später rauchten hier die Schlote einer riesigen Ziegelei, die man zugunsten der Mietskasernen für den ständigen Arbeiterzuzug Ende des 19. Jahrhunderts sprengte. Die O-Töne kommen zum Beispiel von einem Herrn aus der Nachbarschaft, Vorkriegskind, der mit seinen Erinnerungen aus der Kindheit erheitert, etwas altklug, aber wissend – eben unerreichbar nah an einer anderen Zeit.
Anna und Paula laufen gleich voraus, mit der Karte in der Hand, um herauszufinden, an welcher Stelle das nächste Mal der Knopf zu drücken ist, und lassen sich nicht vom Getummel auf der belebten Straße ablenken. In der Dunckerstraße stehen die beiden Schwestern dann fragend vor einem Geschäft. Im Kopfhörer spricht die Besitzerin des Zoofachgeschäft in der Nummer 12. Aber ein Zoofachgeschäft gibt es hier nicht mehr. Sylvie verzeiht dem Hörspiel den Mangel an Aktualität: „Die Gegend ist derart schnelllebig, manchmal erkenne ich sie selbst nicht wieder.“ Die Kinder scheint es nicht zu stören, denn die Erzählung ist so lebendig, dass man sich den kreischenden Papagei im Hintergrund ganz und gar vorstellen kann.
Lebendige Bilder erheben sich auch, als eine alte Dame den Geruch der brennenden Dachstühle in der Lychener Straße nach dem Fliegeralarm beschreibt. Die Mädchen stehen dort, wo sich im selben Alter die Generation ihrer Urgroßeltern in den Luftschutzkellern verschanzt hat, und es weiten sich, ein wenig ängstlich, die Nasenflügel, als röchen sie tatsächlich etwas.
In der guten Stube des Jahres 1900.
Als der Kater aus dem Hörspiel eingeladen wird, sich eine alte Berliner Bürgerwohnung von innen anzusehen, bleibt die Familie erstaunt stehen: „Hier sind wir 15 jahre lang dran vorbeigelaufen.“ Anna und Paula folgen dem Kater ins Obergeschoss, wo sie verblüfft in der guten Stube einer originalgetreu eingerichteten Wohnung aus dem Jahre 1900 stehen. Anna kichert: Neben dem Bett hängt ein kompliziert anmutender Schlafrock nebst einem kuriosen Objekt, das sich später als Wärmflasche herausstellt.
Paula steht derweil in der Küche, betrachtet Fleischwolf und Bügeleisen, inspiziert die Vorratskammer und erzählt: „Im Hörspiel haben sie gesagt, dass sie hier Kaninchen gehalten haben. Bei uns wohnen die Kaninchen auf dem Balkon.“ Und anders als zu jenen Zeiten, da der Prenzlauer Berg ein dicht bewohntes Arbeiterviertel war, halten die Schwestern ihre Haustiere auch nicht, um den kargen Diätplan anzureichern.
In dieser Wohnung werden die verschiedenen Lebensunterschiede der Epochen auf dringliche Weise bewusst: „Wir beiden teilen uns auch ein Zimmer“, gibt Anna zu bedenken, „aber nicht zu zehnt, wie damals die Leute“. Paula rätselt mit ihrem Vater derweil vor einer schwarz-weißen Fotografie herum, wo genau sie wohnen – keine leichte Angelegenheit. Wo heute ein Spielplatz ist, stand früher ein Haus. Der Wandel der letzten hundert Jahren ist unübersehbar. Das Museum in der Dunckerstraße 77 ist übrigens jederzeit zu besuchen und absolut eine Zeitreise wert.
Dem neugierigen Kater folgt die Familie über den Helmholtzplatz, wo es im Kiezkind eine Erfrischung gibt. Hier waren sie schon lange nicht mehr. Aber was sie dann über den Nachbarschaftstreff, der sich auf dem Platz verbirgt, erfahren, könnte sie wieder öfter herlocken. Was sich hier versteckt: „Ein Tauschring, so dass man gibt, was man kann, und bekommt, was man braucht. Ohne Geld“, resümiert Philipp seinen Töchtern das gerade Gehörte. „Ich bin total überrascht, den Kiez so neu zu entdecken.“
Jeder Kiez hat Geheimnisse.
Weiter geht’s entlang der Lettestraße zur Lychener Straße, wo die Mädchen ihren Vater in Lachen ausbrechen sehen – er hat seinen Fahrradhändler an der Stimme erkannt. Dieser erzählt durch den Knopf im Ohr, wie es hier in den 90er-Jahren aussah. Aus der Schilderung wird deutlich, was es damals alles nicht gab. Der leere Raum der Nachwendezeit mag vor dem inneren Auge der Kinder erstanden sein.
Jeder Kiez hat Geheimnisse, die allmählich in Vergessenheit geraten. Für die heranwachsende Generation wird es immer schwerer, unter den bunten Oberflächlichkeiten eine historische Komplexität auszumachen. Der Kater vom Helmholtzplatz hat mit den verborgenen Geschichten nicht nur Anna und Paula unterhalten und ein Stück erstaunliches Wissen über ihre Nachbarschaft zutage gefördert, sondern auch ihre Eltern. „Ich würde das sofort Freunden empfehlen, die uns besuchen kommen“, sagt Philipp überzeugt.
Kinderfreundliche Stadtführung No. 3: Mit Caro durch den Street-Art-Dschungel Kreuzbergs
Streetart-Führungen Berlin, T: 01577-1567869, www.streetart-fuehrungen.de, Dauer: ca. 2 Stunden, Bemerkung: Ab etwa fünf Jahren bringen die Kinder die nötige Aufmerksamkeit mit; die Touren gibt es auch auf Französisch.
Das Kottbusser Tor in Kreuzberg ist nicht gerade ein Ort, an dem man gerne verweilt. Berlin hat viele Gesichter, dieses gehört auch dazu: Polizei in Habachtstellung, Schmierereien an jeder Wand, ein Ort des Transits. Dennoch steckt die Gegend um den berüchtigten Kreisverkehr voller Leben und offenbart eine seltsame Anziehungskraft. In den Wohntürmen öffnen nachts sporadische Clubs, auf den großen Sommerterrassen der türkischen und kurdischen Restaurants bekommt man zur Linsensuppe südländisches Flair. Dass man hier nichts fürchten muss und viel entdecken kann, möchte Caro Eickhoff, Tourguide seit sechs Jahren, ihrer Gruppe zeigen, welche sie zwischen stroboskopischem Blaulicht, kurzen Grün- und langen Rotphasen erwartet.
Caros Fachgebiet liegt abseits von der rückblickenden Stadtgeschichte, entgeht der Bewunderung der Kunsthistoriker und wird von vielen als Verschandelung verunglimpft – ihr Thema ist Kunst im urbanen Raum. Die gebürtige Berlinerin ist Autorin eines taz-Blogs über Street-Art, hat kürzlich eine Ausstellung zum Thema in der Kunsthalle Wilhelmshaven kuratiert und begleitet Interessierte durch Kreuzberg, Friedrichshain und Neukölln auf der Suche nach Berlins vertikaler Subkultur.
Und dafür muss man eben da hingehen, wo es ein bisschen weh tut. „Hier am Kotti gibt es eine Menge zu sehen”, begrüßt Caro die Familie von Karin und Henri. Ihre drei Töchter Nika (7), Hannah (4) und Mira (2) wissen noch nicht genau, warum sie eigentlich hier sind. „Irgendwas mit Graffiti”, weiß Nika, die Älteste, und beginnt gleich, auf Caros Anraten, sich mal umzuschauen.
Die Kinder entdecken plötzlich vom Bürgersteig bis zum Dachfirst Schriftzüge mit mal mehr, mal weniger leserlichen Schriftzügen, die sie sich von der großen Schwester entziffern lassen. Da thronen zum Beispiel riesige, quadratische Buchstaben auf dem Vordach, die Nika entdeckt. „Da ist auch was!“ Die Siebenjährige findet in Schatzsucherstimmung einen dicken, schwarzen Schriftzug. Caro erklärt, was es mit den unleserlichen Unterschriften auf Bushaltestellen und Haustüren auf sich hat: „Habt ihr schon Mal gesehen, was ein Hund beim Gassigehen durch die Stadt macht? Richtig, er schnüffelt an jedem Baum und dann hebt er sein Bein. So ähnlich machen das die Tagger auch, die markieren ihr Revier mithilfe von dicken Filzstiften.” Ein sehr eindrückliches Bild, das auch Hannah und die Kleinste, Mira, vor sich sehen und über das die Kinder natürlich schmunzeln müssen.
Aber ist das auch Kunst? „Graffiti kommt aus Amerika, aus der Hip-Hop-Szene, da wurde gerappt, Breakdance getanzt und gesprüht”, sagt Caro, nicht ohne bei den Kindern nachzuhorchen, ob sie wissen, was Rap oder Breakdance eigentlich ist. Natürlich wissen die Kinder schon, dass Sprühen verboten ist. Caro erklärt ihnen, warum es viele trotzdem tun: „An so hässlichen Ecken wie hier denken die Sprayer: Wenn die Stadt es nicht schafft, dass es hier bunt ist, dann machen wir das eben.” Henri erinnert sich: „Freunde von mir sind damals zu Sozialstunden verdonnert worden. Heute sprüht keiner von denen mehr. Aber die haben auch alle Kinder und müssen nachts schlafen.”
Caro merkt an, dass die geringe Akzeptanz von Graffiti vielleicht eher seiner Unleserlichkeit geschuldet ist und nicht nur dem Umstand, dass es sich dabei um Beschädigung fremden Eigentums handelt. Wenn der Betrachter es nicht versteht, ärgert er sich neidisch wie jemand, dem eine fremde Sprache den Zugang zu einem interessanten Gespräch verwehrt. „Darum unterscheidet man Graffiti und Street Art voneinander.
Zum Schmunzeln oder Nachdenken anregen.
Graffiti bleibt für uns Uneingeweihte unverständlich, Street Art hingegen hat oft eher die Intention Passanten anzusprechen, zum Lächeln oder Nachdenken anzuregen.“ Den Unterschied bemerken die Kinder sogleich. Zwar hatten sie mit faszinierten Blicken zu den waghalsigen Höhen aufgeschaut, wo die Graffiti-Crew der Berlin Kidz ihre verschnörkelten Schriftzüge hinterlassen hat. Aber das Bild, vor dem die Familie nun ihre Hälse reckt, weckt bleibenderes Interesse.
Über einer Tür klebt ein handgemaltes Poster voller irrwitziger Figuren, die zu den Betrachtern heruntergrinsen: Ein von tanzenden Pilzen flankiertes Mädchen mit Maske versteckt sich hinter einem Riesenstück Käse. Caro stellt vor: „Das seltsame, runde Wesen in der Ecke ist ein Kartoffeltierchen. Die Kartoffeltierchen haben sich in ganz Berlin ausgebreitet.“ Es wird nicht das letzte sein, das die kichernden Kinder von nun an entdecken.
Ein paar Meter weiter sieht man, was Wind und Wetter mit diesen temporären Installationen machen. Da flattert nur noch ein zerfetzter Lappen Papier im Wind. „Während Sprühen eine Straftat darstellt, ist das sogenannte wilde Plakatieren lediglich eine Ordnungswidrigkeit“, erklärt Caro. Wie viel mehr künstlerische Möglichkeiten es außerdem bietet, wird klar, wenn man die Feinheiten betrachtet, die viele auf Packpapier gesprühte Schablonenbilder besitzen. Caro erklärt geduldig, wie die Künstler zu Hause solch ein Bild herstellen. Eine ganz schöne Bastelarbeit.
Entlang des Weges erfahren wir nun, was Tape-Art ist, warum ein unter der U-Bahn hängendes Fahrrad eine geheime Botschaft ist und wieso die Turnschuhe an der Straßenlaterne auch Kunst sein können. „Viele Leute gehen nicht ins Museum. Aber hier kommt jeder mal vorbei.“ Street-Art ist für jeden da, der ihr seinen Blick widmet. Und tatsächlich begegnen uns noch ganz andere Materialen und Techniken. „Manche Graffitisprüher wandeln Feuerlöscher in riesige Sprühdosen um“, erläutert Caro, als wir vor einem wohl etwas verunglückten Versuch stehen, auf diese Weise in gesprenkelten Lettern das Revier zu markieren. Einige Künstler kleben ihre Werke mit Baukleber an die Häuser. Andere haben sich zur Aufgabe gemacht, die Stadt mit Fantasiewesen zu bevölkern.
Die Stadt ist von Fantasiewesen bevölkert, man muss sie nur entdecken.
Am Heinrichplatz begeben sich Hannah und Nika gleich auf die Pirsch und finden binnen weniger Minuten zwei auf dem Putz schwimmende Seepferdchen und eine Elefantenkrake aus Salzteig, die sich hinter einer Regenrinne versteckt. Ganz zu schweigen von den vielen Kork-Männchen in Yoga Positionen, die plötzlich überall auf den Straßenschildern auftauchen. Caro freut sich: „Viele Dinge entdecke ich selbst nur, wenn ich mit Kindern unterwegs bin. Ihr Blickwinkel eröffnet eine völlig andere Perspektive.“ Und tatsächlich gibt es auf der Augenhöhe einer Siebenjährigen nicht wenig zu entdecken. „Es könnte wohl demnächst etwas länger dauern, nach Hause zu laufen“, fürchten die Eltern bereits. Auf der Oranienstraße klappert Nika schon jeden Hauseingang ab. Überall kleben amüsante Figuren, die den Passanten aus ihrem Zwischenreich zuwinken. Sie sind ein wenig wie freundliche Geister – nur wer sie sehen will, kann sie auch sehen.
Bevor die Tour zum Austoben auf einem Spielplatz endet, entdeckt Karin noch ein sehr filigran gesprühtes Bild. Caro weist auf die Signatur: „Diese Schablone stammt von C215, einem großen Star der Szene.“ Tatsächlich gibt es einige Künstler, erfährt die erstaunte Familie, deren Stücke in Galerien oder Ausstellungen gelangen. Caro erzählt, wie schnell es gehen kann, dass manche Kunstwerke mithilfe von professionellen Restauratoren und entsprechendem Gerät mitsamt der gesamten Wand, auf der sie angebracht sind, vom Ort entfernt werden und später eine private Sammlung schmücken. Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen, bevor die Vergänglichkeit wieder zuschlägt.